Meine Kriege. Ruinen.

Ewa Maria Slaska

Ein Lob der Frauenarbeit als Aufbau einer Utopie

Ein Text nach einer Konferenz zum Entmythologisieren des Mythos von Trümmerfrauen
Motto der Konferenz:
Nach jedem Krieg muss jemand alles aufräumen.
Wisława Szymborska

Das Buch zum Entmythologisieren

Die „Trümmerfrau“ gehört zum festen Repertoire nahezu jeder historischen Darstellung der Nachkriegszeit, ganz gleich, ob in TV- und Printmedien, in Schulbüchern oder in Ausstellungen der historischen Museen. Seit Anfang der 1950er Jahre bis in unsere unmittelbare Gegenwart kam es darüber hinaus in den unterschiedlichsten Städten immer wieder zur Errichtung von „Trümmerfrauen“-Denkmälern. Leonie Treber hat erstmals die überlieferten Fakten geprüft und kommt zu dem Ergebnis, dass die „Trümmerfrauen“ ein Mythos sind; es gibt nur ganz wenige Belege dafür, dass tatsächlich Frauen im Krieg und in der Nachkriegszeit Bombentrümmer beseitigt haben. Wie für Mythen gemeinhin üblich, handelt es sich bei den heute verbreiteten stereotypen „Trümmerfrauen“-Narrativen jedoch keineswegs um reine Lügen, vielmehr enthalten sie einige Brocken Wahrheit, die jedoch mitunter verfälscht und aus dem Kontext gerissen sind bzw. Wesentliches verschweigen. Die Autorin stellt dar, wie die Enttrümmerung der deutschen Städte tatsächlich stattgefunden hat. Meist waren professionelle Firmen mit technischem Großgerät und Fachkräften die Hauptakteure bei der Trümmerräumung. Und sie zeigt, wie der Mythos „Trümmerfrau“ mit all seinen Facetten entstanden ist. Die Grundlagen für den Mythos der „Trümmerfrau“ wurden bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit gelegt. Eine Analyse der zeitgenössischen Presseerzeugnisse von 1945 bis 1949 legt die dabei entworfenen Bilder offen und fragt nach dem Ursprung des „Trümmerfrauen“-Begriffs. Die Traditionslinien der „Trümmerfrauen“ reichen in der DDR bis ins Jahr 1945 zurück und sind seitdem niemals abgebrochen, sondern kontinuierlich gepflegt worden. Die lange und stabile Tradierung der „Trümmerfrau“ in der Erinnerungskultur der DDR trug somit wesentlich dazu bei, dass sich aus den getrennten und zum Teil diametral gegenüberliegenden Erinnerungssträngen der BRD und der DDR schließlich der gesamtdeutsche Erinnerungsort der „Trümmerfrau“ flechten ließ.1

Hinzu kommt noch der Vorwurf, dass die Frauen nicht umsonst, ehrenamtlich und freiwillig gearbeitet haben, sondern nur, um sich Vorteile zu sichern, Geld, Essenskarten, Kleider, gar Wohnungen.

Trümmerfrauen (und Männer) Denkmale in Berlin. Fotos: Ela Kargol 2024

Leonie Treber übt in ihrem Buch also eine gründliche Zerlegung des Mythos. Möge die Autorin es mir verzeihen, aber kein Buch war mir in den letzten Jahren so verhasst wie dies. Ich verstehe das Bedürfnis, die eingesessenen Mythen, Thesen und Legenden zu lüften und die vergangene Zeit neu zu interpretieren. In Polen heißt solche ein Prozess odbrązowianie – in witziger Art könnte man das Wort als „Debronzierung” übersetzen. Gemeint ist, die Geschichten, die wir als aus Bronze gegossene Denkmäler geerbt haben, ohne Bronze neu zu beschreiben, die Denkmal-Figuren, Dichter, Führer, Päpste usw. als Menschen aus Blut und Fleisch darzustellen, mit all ihren Vor- und Nachteilen, allen Tugenden, aber auch allen Sünden. Wir haben viel Erfahrung damit. Trotzdem ist mir das Buch von Frau Treber zuwider, weil:

1. Selbst wenn sich nur wenig Frauen tatsächlich an der Enttrümmerung beteiligt haben, haben sie es gemacht.
2. Auch wenn sie nur aus materiellen Gründen Trümmer beseitigt haben, haben sie es gemacht, und es war überleben notwendige Arbeit. Es ist auch kein Vorwurf, dass sie dafür belohnt wurden. Arbeit für den Profit ist nichts Verwerfliches. Die ganze Welt arbeitet seit mehreren Tausend Jahren hauptsächlich für den Profit.
3. Auch wenn sie nur gezwungen wurden, haben sie es gemacht. Millionen Menschen in der Geschichte der Menschheit wurden zu Arbeit gezwungen. Ganze Zivilisationen wurden vor allem von Sklaven und Zwangsarbeitern aufgebaut. Auch das deutsche Wirtschaftswunder fusst auf der Sklavenarbeit in der Zeit des Krieges.
4. Auch wenn die Frauen nicht Trümmer beseitigt haben, so haben sie doch überall da, wo sie waren, aufgeräumt.
5. Und dann: Sie arbeiteten so lange es nötig war, aber als die Männer zurückkehrten und geheilt wurden, haben die Männer die Arbeit übernommen und Frauen hat man nach Hause geschickt. Dort sollten sie bleiben und wenn sie in der Aussenwelt arbeiten wollten, mussten sie bis Mitte der 70er Jahre eine Erlaubnis vom Vater, Ehemann oder Bruder bekommen. Man nahm ihnen zuerst ihre Kraft, ihren Lohnerwerb und dann ihre Unabhängigkeit; und nun nimmt man ihnen noch den Mythos.
6. Nach jedem großen historischen Ereignis wollen Leute eine Utopie schaffen. Eine neue Welt, einen neuen Menschen.
7. Je größer die Umwälzung, desto größer die Utopie. Die größte davon war sicherlich der Sowjetkommunismus. Er hat auch am schlimmsten versagt.
8. Einst war die Utopie Teil der Philosophie und der Staatskunde – sie wurde von Männern geschaffen. Heute ist sie ein Derivat von Träumen und wird daher von Frauen, Dichtern und jungen Menschen entwickelt. Don Quijotes.
9. Die großen Utopien sind weg. Sie haben ausgedient. Was uns bleibt, sind kleine Utopien, immer nur temporär.
10. Das Symbol der Utopie sind nicht Staaten und Gesetze, es sind Blumen, die auf den Ruinen der Vergangenheit blühen. In Warschau waren es warszawianki, Warschauerinnen, im Volksmund auch Kosmose genannt. So ist es. Nach dem Chaos entsteht Kosmos. Nach Unordnung Ordnung.

Meine Ruinen

Valeska Gert, deutsche Kabarettistin, schrieb über die Zeit am Ende des Ersten Weltkriegs: „Wir haben den Krieg verloren, egal, Hauptsache er war vorüber. Das ist die Revolution! Die alte Welt ist morsch, sie knackt in allen Fugen. Ich will helfen, sie kaputtzumachen. Ich glaube an das neue Leben! Ich will helfen, es aufzubauen!”2

Dieses Zitat bringt wohl am besten zum Ausdruck, worüber ich hier schreibe. In einer Diskussion über den Mythos der Frauen, die die Welt enttrümmerten, in Berlin, Danzig, Warschau, London oder Mariupol, möchte ich einen Aspekt ansprechen, der die Frauen betrifft.

Frauen haben aufgeräumt und aufgebaut. Politik und Ideologie haben damit nichts zu tun. Nach der Zerstörung soll eine neue, bessere Welt geschaffen werden. Eine UTOPIE. „Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir eine Utopie aufbauen“, sagt Oksana Cherkashina, eine Schauspielerin aus Charkiw. Es waren nicht die Frauen, die die Welt zerstörten, aber wenn die Zerstörung schon da war, sollten sie diese Möglichkeit nutzen, um eine Utopie zu verwirklichen.

Ich gehöre zur Generation der Boomers. Ich wurde gezeugt und geboren von Menschen, die 23 und 21 Jahre alt waren. Sie lernten sich in Danzig im Sommer 1948 kennen und heirateten im Dezember. Sehr schnell, nach dem Krieg heiratete die ganze Generation schnell, weil die Leute so glücklich waren, dass der Krieg vorbei war. Ihre Utopie war eine Welt des Friedens, der Freiheit und des Familienglücks.

Nach dem Krieg kehrten die Menschen nach Warschau zurück. Die Stadt lag in Trümmern, aber wohin sollten sie zurückgehen? Jeder fand sich irgendwie zurecht in den Ruinen. Meine Familie, die auch nach Warschau in die Ruinen zog, richtete sich in einem großen Raum über einem Kino ein, wo ein riesiges Loch im Boden klaffte. Mein Großvater war der Direktor dieses Kinos.

Es wurde darüber diskutiert, ob es sich überhaupt lohne, die Stadt wieder aufzubauen. Es gab Pläne, die Hauptstadt dauerhaft nach Lublin, Łódź oder Kraków zu verlegen. Die Warschauer haben jedoch nicht auf eine politische Entscheidung gewartet, sie haben gelebt. In einem der Tore begann ein Friseur Haare zu schneiden, in einem Kellerfenster hing seit einem Tag ein Stück Pappe mit der Aufschrift „Schlesische Klöße“. Es waren der Friseur und die Köchin, die beschlossen haben, dass die Stadt wieder aufgebaut werden sollte.

Meine Generation wuchs in Ruinen auf. Ich wurde im Herbst 1949 geboren. Danzig war ein Trümmermeer. Interessant war es, dass im Gegenteil zu anderen Städten in Polen, vor allem Warschau, für die Ruinen in Danzig waren die Sowjets und nicht die Deutschen verantwortlicht. Das führte zu vielen Verschwiegenheiten und Verklärungen, daher, glaube ich, wollte man die Trümmer schnell beseitigen. Je schneller die Ruinen weg waren, desto schneller sollten die Bewohner vergessen, weshalb Danzig ein Trümmermeer war. Darüber wurde kaum gesprochen, auch hinter der vorgehaltenen Hand nicht. Das Schweigen war sicherer.

Der Wiederaufbau dauerte bis in die 1960er Jahre, einige Flächen, auch im Zentrum, sind jedoch bis heute nicht bebaut. Ruinen, Löcher, Ödniss, die Überreste einer zerstörten Stadt. Sie sind überall, in jeder Stadt, wo vorher der Krieg wütete. Manchmal zum ewigen Gedenken hinterlassen, wie die Ruinen der Gedächtniskirche in Berlin, manchmal der Zeit und dem Schicksal überlassen. Lost places.

Verschiedene Projekte, offizielle, halboffizielle, wilde und illegale, haben sich dort angesiedelt. Kleine Utopien, die spontan entstehen und so lange überleben, bis ein Investor auftaucht und etwas bauen will. Gärten, Wohngemeinschaften, Jazzkeller, Musikklubs, Kulturzentren.

Die kleinen Utopien waren Teil einer größeren Utopie, wie z.B. der Bezirk Kreuzberg, der in den 80ern und 90ern das Lebensmodell schuf, das wir alle anstrebten. Ein Ort der Gleichberechtigung, des Feminismus, der Toleranz, des Pazifismus, der Diversität, des Veganismus und der Teilhabe; in besetzten Häusern oder WGs zu leben, uneheliche Kinder zu haben und nicht reich werden zu müssen. Es waren gehabte Utopien.

In jeder der zerstörten Städte gewinnt der Wiederaufbau eine symbolische Bedeutung, auch wenn er hastig und ohne Rücksicht auf die alte Bausubstanz durchgeführt wird, auch wenn nur der Effekt, das Aussehen, das Symbol zählt.

Als ich ein Schulmädchen war und mit meiner Oma in Danzig an der Złota Brama (Goldenes Tor) in die Straßenbahn einstieg, um über die Długa-Straße und den Długi Targ zum Wedel Pijalnia czekolady (Schokoladen Café) zu fahren, sah das Zentrum schon ziemlich gut aus.

Stefan Chwin und Paweł Huelle schreiben über die Ruinen. Ich dagegen erinnere mich nur an die weiß gedeckten Tische, an denen wir mit meiner Oma saßen und Schokolade aus weißen Porzellantassen tranken.

Jungs und Mädels halt.

Die Ruinen von Warschau hatten eine andere Dimension. Sie waren allgegenwärtig. Da sie nicht von Sowjets verursacht wurden, konnte man sie stolz präsentieren. Wenn ich als Kind mit Mama nach Warschau reiste, kam der Zug abends an und hielt am Bahnhof Warszawa Wschodnia (Ostbahnhof), der dunkel und leer war, umgeben von Ruinen. Als Kind glaubte ich, in den Ruinen rund um den Ostbahnhof lauerten „die Deutschen”.

Blumen

Tibor Jagielskis schrieb3:

pierwiosnek

nie pytaj się o apokalipsę – nastąpiła ona jak zwykle wczoraj
dzisiaj budzi się jak zawsze w ruinach snu
i jak pierwiosnek
rozkwita w każdej szczelinie pamięci
primel

frag nicht nach apokalypse – sie geschah wie immer gestern
heute erwacht sie wie immer in den Trümmern des Traums
und wie eine primel
blüht in jeder spalte der erinnerung

Blumen in den Ruinen also.

Ruine ist ein schwieriger Ort zum Leben. Zuerst siedeln sich hier die Pflanzen an, die widerstandsfähigsten, die alle verfügbaren Spalten nutzen. Erst danach kommen die Tiere, Mäuse, Ratten, Fledermäuse, Tauben und zuletzt die Menschen. Sie lassen sich alle vom Zustand der Zerstörung nicht abschrecken.

In Warschau ist gerade ein Park entstanden, der auf und mit der Ruinen aufgebaut wurde. Er wurde Ende 2024 mit einem Preis für die schönste Grünanlage Europas ausgezeichnet.4

Pilze, Moss, Gras, Unkraut, Blumen aus verwilderten Gärten, alte und neue Bäume sind Teil der Trümmer-Landschaft. Weidenröschen, Goldrute, Nachtkerze.

Cosmeen – sie wuchsen auf den Trümmern Warschaus und die Menschen, die in die Hauptstadt zurückkehrten, nannten sie warszawianki, dh. Warschauerinnen.5

Das Leben auf Trümmern kann nicht aufgehalten werden. Wenn dieser Zustand mehrere Jahrzehnte anhält, wird da, wo vorher die Stadt lag, der Wald wachsen. Wir in Berlin sind besonders sensibel für solche Biotope. Auf den Mauerstreifen wurden zwar Bäume gefällt, weil sie den Wachen die Sicht versperrten, aber alles andere durfte frei leben und wachsen. Wo die Mauer verlief, in der Niemandszone zwischen Ost und West, wuchsen wilde Gärten und lebte das Berliner Kaninchen6, auch Mauerhase genannt.

Schutt und Trümmer verbessern den Boden, der Krieg verjüngt ihn – Feuer und Asche versorgen ihn mit Kohlen- und Stickstoff und der in den Mauern vorhandene Kalkmörtel dient als Dünger und vergrößert das Volumen der Humus-Schicht.

Trümmerfrauen

Beseitigung von Trümmern ist eine harte Arbeit. Es waren die Männer, die die meiste Arbeit geleistet haben, aber es waren die Frauen, die sofort bemerkt wurden. Das bestätigen auch die Fotos. Die Frauen auf den Fotos sind elegant, in Mänteln, mit Hüten, Handschuhen und Absatzpumps. Trümmerfrau als ein Fotomotiv. Als ein Mythos. Als Heroisierung eigener Vergangenheit. Ja, auch, aber das kann nicht die ganze Wahrheit sein.

Als der Krieg zu Ende war, waren die Männer weg, kehrten erst langsam zurück, oft verwundet, krank, ausgemergelt. Die Frauen konnten nicht warten, mussten sofort leben, jetzt, heute, sich und die Kinder oder alte Eltern vor der Kälte, dem Regen und den Räubern schützen. Es waren Wohnungen, die sofort instandgesetzt werden mussten, auch wenn es sich nur um die Beseitigung des Schutts beim Hauseingang handelte.

Frau musste auch sofort ihren Lebensunterhalt verdienen. Mythen erzählen von Heldinnen, von Freiwilligen. Die Realität war vielleicht anders. Frauen arbeiteten, weil die Stadt ihre Arbeitskraft brauchte und sie wiederum brauchten Geld. Und wenn nicht Geld, dann Wohnung, Essen, Kohle, Kleider. Ist es verwerflich, nur weil das Materielle auch da war? Auch.

Wir glauben heute nicht mehr, dass es Frauen waren, die Berliner Trümmerberge abgetragen und aufgetürmt haben. Jetzt wird der Mythos als kommunistische Propaganda abgetan. Ich frage mich aber, ob es gut ist, dass wir mit einer Konferenz7 wie diese bei dem Abbau des Mythos mitmachen, die symbolischen Elemente unserer Identität tilgen. Wir brauchen Legenden.

Gleich nach dem Kriege errichtete man Denkmäler für die, die Trümmer abgetragen haben.8 Im Osten war es ein Doppel-Denkmal für beide Geschlechter. Das erste TrümmerFRAU-Denkmal entstand jedoch im Westen, im Volkspark Hasenheide. Sein Entstehen ist der aufrüttelnden Rede von Louise Schroeder, Bürgermeisterin Berlins (West), 1949 zu verdanken: Und als Frau muss ich sagen, hier haben wir geradezu eine Ehrenpflicht gegenüber den Frauen, die noch im weißen Haar zum Zwecke der Enttrümmerung auf der Straße gestanden haben…9

Aussage gegen Aussage – Leonie Treber stellt lediglich klar: Frauen waren bei der Trümmerräumung in der Minderheit, sie waren nur regional vertreten, vor allem in Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone. Und sie schafften den Schutt weder freiwillig noch gerne weg.

Wiederaufbau aus Ruinen als Utopie (Männerutopien)

In den 50ern endete die Enttrümmerung und der Wiederaufbau begann. Und wo immer er begann, im Osten oder im Westen, sollte er Elemente der Utopie enthalten. Neue Siedlungen werden auf den Trümmern und aus den Trümmern gebaut. Die zerstörten Städte werden auf moderne Weise wiederaufgebaut, im Geiste der Charta von Athen, im Sinne der Sozialdemokraten in den 20ern Jahre: aufgelockerte Wohnblöcke, jede Wohnung mit Zugang zu Licht, Luft und Grün, nicht nur für Wohlhabenden, sondern auch für Arbeiter.

Utopie, das heißt Wasser aus dem Hahn, Strom aus der Steckdose, Zentraleheizung, Balkon und die Beseitigung der dunklen Hinterhöfe. Es sind die grundlegenden Elemente des Aufräumens in der Nachkriegszeit. Aber nicht die einzigen. Im politischen Osten verspricht der auf den sowjetischen Tanks mitgebrachte Sozialismus eine soziale Utopie, obwohl die Mitbringer wohl wussten, dass er in der Sowjetunion schon lange gescheitert ist.

Das Thema wird jetzt durch den Krieg in der Ukraine, den palästinensisch-israelischen Konflikt, durch unser Leben in den Zeiten der hybriden Kriege wieder aufgegriffen. Es gibt Slums, die nicht aufgeräumt werden. Die Reichen werden immer schneller reicher und die Armen immer schneller ärmer, die Pandemien sind noch nicht vorbei, die Dürre dehnt sich aus, extreme Wetterereignisse stehen uns bevor, Milliarden Tiere sterben bei Bränden von planetarischem Ausmaß.

Die Menschen verlieren ihre Lebensgrundlage. Die Welt, die wir kannten, gibt es nicht mehr. Die protestierenden Polinnen riefen noch 2023 „das ist ein Krieg“ (to jest wojna!). Oder zumindest eine Dystopie. Bis jetzt entstanden die Utopien nie aus der Entwicklung von Dystopien, sie entstanden, wenn Krieg, Revolution, Unglück oder Katastrophe ihnen Freiraum schafften.

Nicht nur die Ukraine hofft auf eine Utopie nach dem Krieg. Auch Palästina. Sogar Putin ernährt sich von der Idee einer Utopie, von Großrussland im Geiste des Panslawismus.

Frauenutopie

Erst jüngst entstand der Gedanke, dass es vielleicht möglich ist, eine Utopie zu verwirklichen, ohne die vorherige Zerstörung, dass die Wurzel einer Utopie nicht unbedingt das Chaos des Kriegs sein muss, es ist in erster Linie die Unzufriedenheit. Schon alleine die Idee, dass die Dinge besser sein könnten, bedeutet, dass sie bereits besser sind.

Wenn wir offen für Veränderungen wären und nicht starr an festen Gewohnheiten hingen, wenn wir in der Lage wären zu akzeptieren, dass das, was „unser“ ist, verschwindet, wenn wir freiwillig das Paradigma änderten, bräuchten wir vielleicht keine blutigen Katastrophen. Das Leben würde genügen, um einen Paradigmawechsel herbeizuführen.
Bewusst befragte ich nur die Frauen, ob sie eine bessere Welt schaffen würden? Die Antwort „Ja“ ist sentimentales Wunschdenken, ein naiver Glaube, dass Frauen besser sind als Männer. Die Skepsis gebietet, mit Urteilen vorsichtig zu sein. Was aber, wenn eine weibliche Utopie tatsächlich besser wäre? Denn schließlich sind es die Frauen, die sich fragen, wie sie ihr Herz angesichts der Grausamkeit des Krieges bewahren können, was Swetlana Alexijewitsch behauptet.10

Die Wiederaufnahme utopischer Experimente der Vergangenheit, selbst wenn sie gescheitert sind, könnte uns helfen, die Realität der Gegenwart besser zu verstehen und unseren Horizont zu erweitern, um radikal andere Möglichkeiten für unsere Zukunft in Betracht zu ziehen. Dies ist in Angesicht der Bedrohung, die uns im November 2024 allerseits umzaunt, noch wichtiger denn je. Man fürchtet den Ausbruch des Dritten Weltkriegs, nachdem Donald Trump zum neuen Präsidenten der USA gewählt wurde. Er hat zwei Entscheidungen vorausgesagt. Er wird Europa nicht mehr unterstützen, aber auch – er wird den Krieg in Ukraine an einem einzigen Tag beenden. Er liefert uns also Putin aus und er nimmt Putin die Entscheidung, uns anzugreifen weg.11 Aber auch wenn wir denken, dass es so sein wird, weil die Logik des Weltgeschehns es so will, hoffen wir immer noch, dass es anders werden wird. Und denken über Utopie unserer Zeiten, an die Welt ohne Krieg.

Wir wissen, es muss eine Zeit und einen Ort geben, an dem das Alte weggefegt wird und wir aufbauen können. „Wir wollen helfen, die alte Welt kaputtzumachen. Wir glauben an das neue Leben! Wir wollen helfen, es aufzubauen”, schrie Valeska Gert.

Wollen wir das auch?, fragt Anne, die diesen Text lektoriert.

Ein Gründungsmythos wird geschaffen.

„Wir haben diesen Krieg nicht verursacht und wir haben ihn nicht gewollt, aber da er nun einmal da ist und alles zerstört, wird er den Weg für eine neue, wunderbare Welt freimachen“, verkündete Oksana Cherkashina, eine Ukrainerin bei einer Veranstaltung 2022 in Breslau.12

„Es wird keine schlechten Straßen und keine Karten geben, auf denen die Feuer der Kriege brennen“, beteuert Natalya Vorozbyta, eine weitere Ukrainerin.13

„Wir wollen radikale Selbstbestimmung erlangen, Souveränität darüber, wie wir unser Leben gestalten wollen. Wir wollen selbstbestimmt, selbstverwaltet und unabhängig sein”, sagt Natalya Sniadanko, ebenfalls eine Ukrainerin.14

Ideologische Utopien sind groß, sie umfassen die ganze Welt. Sie brauchen Worte wie überall, immer und nie. Aber realistische Utopien werden klein sein – Dörfer, Kommunen, Gruppen. Große Utopien haben nie Erfolg. Deshalb hatte auch die Solidarność in Polen keinen Erfolg. Sie lieferte nur während des Streiks eine Utopie.

Etwas muss die Personen, die eine Utopie gründen, vereinen. Frauen, Kinder, Behinderte, Blinde, Menschen unterschiedlicher Hautfarbe. Sie sind in der Regel durch eine Erfahrung vereint, meist durch Ungerechtigkeit.

Die Utopie muss ein Zuhause sein oder ein Zuhause versprechen, Sicherheit und Vertrautheit. Zugleich aber muss etwas an der Utopie ungewöhnlich sein, sehr neu und vom Stereotypenabweichendes ausstrahlen.

Man folgt einer Utopie, sie wächst wie eine Blume, ein Pilz, eine Myzel. Wie ein Wald.
Sie muss Gemeinsames versprechen, aber auch Privates zulassen. Sie beruht auf der Freiwilligkeit, wie die Heterotopie von Olga Tokarczuk15.

Sie muss auf Respekt und Toleranz beruhen, auf Empathie für alle Lebewesen.

Die Erde ist ein Organismus. Machen wir uns die Erde nicht untertan, sondern leben wir mit der Erde!

So ist es!

***

Danke an Ela Kargol, Esther Schulz-Goldstein und Anne Schmidt für Gespräche über Trümmerfrauen, Blumen, Symbole, Ruinen. Danke an Marek Włodarczak, der mich immer wieder daran erinnert, dass wir das erste Gebot des Gottes ablehnen solten, das er uns schon an der Schwelle des Gartens Eden erteilte, längst bevor Moses die 10 Gebote in schriftlicher Form bekam. Gott hat Adam und Ewa befohlen, sich die Erde untertan zu machen. Und durch dieses Prinzip haben die Menschen Unheil, Kriege, Katastrophen in die Welt gebracht.

Wir müssen damit aufhören. Dann wird die Utopie verwirklicht werden, natürlich nur, wenn wir sie rechtzeitig vor dem Ende der Welt realisieren.

1 https://www.amazon.de/Mythos-Tr%C3%BCmmerfrauen-Tr%C3%BCmmerbeseitigung-Nachkriegszeit-Erinnerungsortes/dp/3837511782; Zugang 21.11.24
2 https://www.amazon.de/Valeska-Gert-Berlin-Kampen-Sylt/dp/3955655148; Zugang 1.07.24
3 https://ewamaria.blog/2023/04/08/wiersze-z-broda-i-bez-18/; Zugang 08.04.23
4 https://www.national-geographic.pl/traveler/kierunki/mamy-najpiekniejsza-przestrzen-publiczna-w-europie-polski-park-ponownie-wyrozniony/; Zugang 20.11.24
5 https://wyborcza.pl/7,175991,28744735,czy-na-gruzach-warszawy-rosly-kosmosy-jesli-tak-to-byly-to.html; Zugang 10.07.24
6 https://youtu.be/8S4Vqt9XJi8?si=nC98kNfS9XqxPGXb; Zugang 26.11.2024
7 https://cbh.pan.pl/de/%E2%80%9Enach-jedem-krieg-muss-jemand-aufr%C3%A4umen%E2%80%9C-w-szymborska; Zugang 09.11.24
8 https://ewamaria.blog/2024/10/11/my-trzy-w-polskiej-kafejce-jezykowej/; Zugang 11.10.24
9 https://de.wikipedia.org/wiki/Tr%C3%BCmmerfrau-Denkmal_(Berlin-Neuk%C3%B6lln)#:~:text=%E2%80%9EUnd%20als%20Frau%20mu%C3%9F%20ich,%E2%80%9C; Zugang 12.08.24
10 https://www.suhrkamp.de/buch/swetlana-alexijewitsch-der-krieg-hat-kein-weibliches-gesicht-t-9783518466056; Zugang 21.11.24
11 https://www.fr.de/politik/droht-der-dritte-weltkrieg-fachleute-bewerten-die-situation-im-ukraine-krieg-zr-93424170.html; Zugang 21.11.24
12 https://biblioteka.wroc.pl/dzialaczki-kobiety-na-emigracji/; festival feminatywa 2022; Zugang 21.11.24
13 https://nachtkritik.plus/de_DE/films/bad-roads-zerstoerte-strassen-von-natalia.20607; Zugang 21.11.24
14 https://www.youtube.com/watch?v=r6lUUkZrpng; Zugang 21.11.24
15 https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/00111619.2023.2196390#abstract; Zugang 21.11.24

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