Was mich der Krieg angeht

Monika Wrzosek-Müller

Ich bin einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren und hatte inzwischen berechtigten Grund zu glauben, dass mich der Weltkrieg wenig anginge und beträfe, trotz der traumatischen Kriegserfahrungen meiner Großeltern und Eltern. Vielleicht wollten wir alle den Krieg einfach hinter uns lassen, vergessen, obgleich – oder vielleicht weil – wir in den Schulen ständig damit konfrontiert worden waren. Der russische Überfall auf die Ukraine war für mich ein Schock, trotz der Vorzeichen seit der Annexion der Krim von 2014; so wie Tausende andere Menschen konnte ich mir nicht vorstellen, dass Putin so etwas wagen würde. Noch in den Tagen direkt vor dem Angriff von 2022 sah ich, damals im polnischen Fernsehen, die militärischen Manöver an der Grenze zur Ukraine und war trotzdem überzeugt, dass es nicht zum endgültigen Bruch mit der zivilisierten Welt kommen würde.

Seit dieser Zeit dreht sich mein Denken eigentlich ständig um diesen Krieg, irgendwie bestimmt er meine gesamte Wirklichkeitswahrnehmung, existiert diffus und begleitet mich. So als ob die Traumata meiner Familie wiederbelebt wären und sich auf mich übertragen hätten. Daher vielleicht mein großer Applaus für die italienische Schriftstellerin Francesca Melandri und ihr Buch „Kalte Füße“ und jetzt für den polnischen Autor Szczepan Twardoch und sein Werk „Die Nulllinie“. Im letzten Roman von Joachim Meyerhoff „Man kann auch in die Höhe fallen“ heißt es treffend: „Nicht erzählte Geschichten können sich entzünden und zu einer lebensbedrohlichen poetischen Sepsis führen.“ So begleitet mich eben jetzt auch die dunkle Vergangenheit meiner Familie ständig: was ich damit gemacht habe, meine Verantwortung dabei, meine Haltung und Stellung dazu. Jahre, jahrzehntelang beschäftigte mich das wenig, erst der Krieg in der Ukraine hat alles aufgewühlt und in Frage gestellt und mir vieles vor die Augen geführt, verstärkt hat es vielleicht auch die eher lethargische Reaktion der deutschen Regierung in den ersten Monaten nach dem Überfall. Auch wenn mich die Haltungen gegenüber der Kriegsgeschichte in Deutschland, wo ich lebe, immer wieder irritiert haben, sah ich früher nicht so deutlich die ganze Ungerechtigkeit der Nachkriegsgeschichte, verglich ich nicht die Schicksale, sah nicht die Schuldigen, die Opfer. Manchmal ärgerte ich mich über die Vermischung und Verwischung der Tatsachen, wenn man z.B. über die „polnischen“ Konzentrationslager so sprach, als seien dort ausschließlich Juden ermordet worden. Manchmal irritierte mich das Sich-Aufspielen in der deutschen Erinnerungskultur, das arrogante Gedenken – mit vielen Worten und wenig Herz, die vielen formalen Reden und Feierlichkeiten. Manchmal dachte ich, wie grausam und akkurat die Wissenschaft berichten kann, die Zahlen, die Ereignisse aufreihen, weniger die Zusammenhänge herstellen, Ursachen aufzeigen. Oft waren dann die dahinterliegenden Lebensgeschichten, die konkreten Lebensläufe unberührt, vergessen, es kam nicht richtig zur Sprache, wieviel Leid und Trauer ein solcher Krieg wirklich mit sich gebracht hat. Das alles kam nach dem Überfall auf die Ukraine verstärkt auf mich zu, hat mir ganz klargemacht, dass wir ständig und immer wieder darüber sprechen und berichten müssen, dass das Wissen über vieles mangelhaft und nicht ausreichend ist.

In meiner Kindheit war der Krieg immer gegenwärtig. In unseren Kriegsspielen ging es allerdings eher um die Steppe, um Wölfe und Kamele als um Bombardierungen und Frontkämpfe – gespielt wurde unter dem Tisch, unter einer dicken Tischdecke, in der Dunkelheit, und nichts wurde hier klar ausgesprochen, der Zusammenhang mit Kriegserfahrungen nicht erklärt. Dennoch spürte ich als Kind, dass es da diese andere Wirklichkeit gab, ein vergangenes anderes Leben oder sogar zwei Leben. Zum einen das einer vor dem Krieg wohlhabenden bürgerlichen Familie aus Lemberg mit vielen Bediensteten, von denen, in der Erinnerung meiner Mutter, jeder präzise Aufgaben zu erfüllen hatte. Da gab es eine Bügelfrau, die einmal in der Woche kam, oder den Offiziersburschen, der meinen Opa immer zur Uni gefahren haben soll, schwere Einkäufe und andere Lasten getragen habe, dazu die Ukrainerin, die immer wieder frisches Gemüse und Obst brachte und manchmal in der Küche half. Und dann gab es das zweite Leben dieser Familie im Krieg, nachdem die Sowjets alle Frauen der bürgerlichen intellektuellen Elite aus Lemberg deportiert hatten: das völlig absurde, unverständliche, abstrakte und unmenschliche Leben in der Steppe, unter den Kasachen, zuerst in einer Jurte oder einer Erdhöhle und später in der Stadt Semipalatinsk, immer noch am Ende der Welt. Wir wuchsen damit auf, spielten an den Wochenenden mit meiner Tante diese uns völlig fremde Wirklichkeit nach, vielleicht hatte sie, meine Tante damals diese Wirklichkeit selbst noch nicht verarbeitet und spielte sie für sich nach. Meine Mutter, etwas jünger als die Tante, erlebte offenbar alles als ein großes Abenteuer; war auch der „geroj“ (Held) in allen Lebenslagen. Die jüngste Schwester hat das erste Jahr in der Steppe nicht überlebt.

Doch der große Krieg war auch das Leben meines Großvaters, den ich nie kennengelernt, aber seine Präsenz immer gespürt habe. Als meine Mutter in die Steppe deportiert wurde, war er schon in Frankreich; zur gleichen Zeit wie die polnische Regierung war er als Pilot mit seiner Flugstaffel nach Rumänien ausgewichen; musste dort allerdings seine Flugzeuge und etliche Kameraden zurücklassen; von Constanza aus erreichte er Istanbul, wo er eine Schiffspassage nach Frankreich ergatterte. Über seinen Einsatz im Krieg habe ich nur aus seinem Tagebuch erfahren. Letztlich starb er in Großbritannien, als Pilot der Royal Airforce – über Schottland, in der Nähe von Lossiemouth, von den Deutschen abgeschossen. Er lebte in der Erinnerung meiner Mutter als der Superheld ihres Lebens fort, als Beispiel für einen guten Polen, wahren Patrioten, gewissenhaften Wissenschaftler. Das Gute für meine Familie daran war die Witwenrente der englischen Regierung für meine Oma. Unter den politischen Verhältnissen des Kalten Kriegs konnte sie die Rente leider nicht direkt beziehen, schaffte es aber dank komplizierter Bekanntschaftsbeziehungen, in den mageren Jahren der Volksrepublik Polen an viele „westliche“ Güter aus England zu gelangen.

Die Kriegserfahrungen wurden auf der einen Seite der Familie immer wachgehalten, zwar schmerzhaft, aber bunt, ausgelebt und ins Gedächtnis gerufen, berichtet von meiner Mutter. Mein Vater dagegen hat immer geschwiegen, weshalb meine Schwester und ich lange nicht wussten, dass und wie er am Krieg teilgenommen hatte. Er stammte aus Warschau, war dort geboren und aufgewachsen als Sohn eines Straßenbahnfahrers und einer Schneiderin. Er war bescheiden, still, angepasst, sozial engagiert und vielleicht, so dachte ich als Teenager, sogar dem Sozialismus zugeneigt. Erst Jahre später kamen seine Erinnerungen an den Krieg zur Sprache, da war ich schon erwachsen. Er erzählte von seiner Hilfe für das Warschauer Ghetto (die Familie wohnte ganz in der Nähe), von seiner Teilnahme als kleiner Junge, da war er erst 16, dann 17 Jahre alt, an den Vorbereitungen der Untergrundarmee AK (Landesarmee) auf den Warschauer Aufstand. Ich erinnere mich an unsere Besuche auf dem Warschauer Friedhof Powązki und daran, dass sein Name irrtümlich auf der Tafel für die Gefallenen des Bataillons „Parasol“ aufgeführt war – der berühmten Brigade der Pfadfinder, die fast alle im Kampf um Warschau ihr Leben gelassen haben. Die wenigen Überlebenden gerieten meistens in deutsche Gefangenschaft; so auch mein Vater, der in den letzten Kriegstagen aus dem Gefangenenlager nahe der belgischen Grenze nach Paris flüchtete, unentschlossen, was er mit sich anfangen sollte. Viele blieben im „Westen“, mein Vater aber kehrte 1946 nach Warschau und wurde sofort als Mitglied der von den Kommunisten geächteten AK verhaftet. Mehrere Monate musste er im Gefängnis dafür büßen. So konnte er später bestimmt kein Anhänger des Kommunismus gewesen sein.

Seine Erinnerungen an den Warschauer Aufstand hat er nach 1989 für das Museum des Warschauer Aufstandes gewissenhaft aufgezeichnet. Mag sein, dass das Museum für unbeteiligte Beobachter die Aufstandsgeschichte zu emotional darstellt, doch für viele Polen, vor allem für diejenigen, denen das Erinnern daran nach dem Krieg regelrecht verboten wurde oder mit großen Risiken verbunden war, bedeutete die Eröffnung des Museums einen Lichtblick und brachte Genugtuung für ihre Enttäuschungen nach dem Krieg.

Wenn ich heute unsere Lebenswege, die meiner Familie betrachte, dann wird mir immer schärfer deutlich, wie tief der Krieg alles durcheinandergewirbelt hat – Kontinuitäten abgeschnitten, alles aufgebrochen, immer verbunden mit enormem Leid und immer neuen Anpassungszwängen; das hat uns vielleicht gestärkt und vorangebracht, immer wieder aufs Neue auf die Probe gestellt und herausgefordert. In gewissem Sinn hat der Krieg vor allem aber eine innere Karte für uns angelegt, mit der wir weiterleben, weitergehen mussten. Besser, wenn es möglich gewesen wäre, alles schnell und aufrichtig für sich zu klären und zu entwirren, sonst bleiben viele Dornen stecken, die sich festhaken und uns still bluten lassen. Diese inneren Karten erweitern sich mit den Jahren, über die Generationen und werden weitergegeben. Gut, wenn das im Frieden passiert, wenn es Zeit und Raum gibt mit der Vergangenheit ohne äußeren Druck fertig zu werden.

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