Monika Wrzosek-Müller
Die Vegetarierin von Han Kang
Eigentlich wollte ich weiter über Syrakus für unseren Blog berichten, doch wie soll ich über antike, barocke Prachtbauten und unendlich grüne Ebenen mit Tausenden von Orangen- und Zitronenblüten und Früchten schreiben, wenn rundherum so viel zu Bruch geht, sich verändert und nach Hilfe ruft? So sind mir die letzten Eintragungen im Blog zur Inspiration geworden, außerdem ein Buch, das ich neulich gelesen habe. Wahre Künstler sind fast immer Vordenker, sensibel erspüren sie Prozesse, die vor sich gehen, die aber wir normalen Sterblichen vielleicht noch nicht so wahrnehmen. Was Ewa über Yoko Ono und Cut Piece auch über Marina Abramović und ihre Performance Rhythm 0, weiter über gewaltgeladene Filme schrieb, schien mir sehr einleuchtend. Einerseits wollen die Künstler unserer Gewaltaffinität nachspüren, aber auch unsere Verwundbarkeit testen. Da die Welt eigentlich auf Vertrauen basiert, überprüfen sie auch das. Sie fragen immer wieder: woher kommt die Gewalt, die von uns, über uns von irgendwoher kommt und uns überfällt, ob wir sie kontrollieren können.
Ich las also das Buch Die Vegetarierin der letztjährigen Literaturnobelpreisträgerin Han Kang, 2007 in Südkorea erschienen, schon 2016 auch ins Deutsche übersetzt. Doch ohne den Nobelpreis hätte ich es vielleicht übersehen, auch wenn die englische Übersetzung mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet wurde. Warum komme ich von den Performances und Filmen wie Parasite von 2019 auf diesen Roman? Ich denke, wir alle spüren, dass sich etwas ändert, unser ganzer Planet und wir alle. Vielleicht sind dann Veränderungen der traditionellen Ernährungsweisen hin zum Vegetarianismus oder noch weiter zum Veganismus eine Antwort darauf. Die Menschen versuchen, auf den Wandel zu reagieren, sie gehen in einen stillen Protest, in Auflehnung gegen das Alte. Diese Ausbrüche scheinen erst einmal harmlos und manchmal sogar begründet zu sein, doch in der Konsequenz können sie unser Leben, unsere Welt auf den Kopf stellen. So ist es auch in der Erzählung von Han Kang. Ihre Helden sind alle unscheinbar, durchschnittlich und gewöhnlich, doch das, was ihnen passiert ist in jeder Hinsicht extrem und extravagant.
So beginnt das Buch mit der Erzählung des Ehemanns der Hauptheldin über diese: „Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinbar. Um ehrlich zu sein, fand ich sie bei unserer ersten Begegnung nicht einmal attraktiv. Mittelgroß, ein Topfschnitt, irgendwo zwischen kurz und lang, gelbliche unreine Haut, Schlupflider und dominante Wangenknochen. Ihre farblose Kleidung zeugte von ihrer Scheu, etwas von sich preiszugeben. Als sie sich dem Tisch näherte, an dem ich auf sie wartete, fielen mir ihre Schuhe auf. Es waren die schlichtesten schwarzen Schuhe, die man sich nur vorstellen kann. Und dann dieser Gang, nicht schnell, nicht langsam, nicht raumgreifend und auch nicht trippelnd.
So fühlte ich mich weder von ihr angezogen noch abgestoßen und sah daher keinen Grund, sie nicht zu heiraten. Ihr Mangel an Ausstrahlung, ihr fehlender Esprit und Charme, kam mir im Grunde genommen sehr gelegen.“
Sie ist also die durchschnittlichste Frau der Welt und er selbst der gewöhnlichste Ehemann, wenn wir einmal von seiner extremen Gefühllosigkeit absehen. Er selbst beschreibt sich folgendermaßen: „Mein ganzes Leben lang habe ich nie die Herausforderung gesucht. Als ich klein war, umgab ich mich am liebsten mit deutlich jüngeren Kindern, damit ich den Chef spielen konnte. Später bewarb ich mich an einem College, das unter meinem Niveau lag, um sicherzugehen, dass ich ein Stipendium bekam. Schließlich nahm ich eine vollkommen durchschnittlich bezahlte Stelle in einer kleinen Firma an, in der man meine begrenzten Fähigkeiten jedoch zu schätzen wusste, solange ich meine Arbeit tat. Daher war es nur folgerichtig, dass ich eine Frau wählte, die an Durchschnittlichkeit kaum zu überbieten war.“
Erst durch ihre Träume und die daraus resultierende Abscheu und Ekel, die Yong-Hye gegen jede Art von Fleisch entwickelt, ändert sich alles und sie gewinnt an Ansehen und Aufmerksamkeit. Sie bereitet alle Gerichte ohne Fleisch zu, vernichtet alle Speisen, die im Gefrierfach lagern, nimmt stark ab und präsentiert sich völlig verändert. Sie kümmert sich nicht mehr darum, was um sie herum geschieht. Ihre Verweigerung kulminiert, als sie bei ihren Eltern zu Besuch ist und der Vater sie zum Fleischessen zwingen will; mehr noch: er verpasst ihr eine kräftige Ohrfeige und daraufhin versucht sie sich umzubringen. Sie wird in eine Klinik eingewiesen und entgleitet dort weiter in ihre eigene Welt.
Das nächste Kapitel wird aus der Sicht des Ehemanns von Hong-Hyes Schwester erzählt, einem eher erfolglosen Künstler. Er lebt hauptsächlich von dem Geld, das seine Frau mit ihrem Kosmetiksalon verdient und versucht sich an einem Projekt mit menschlichen Körpern, die er mit Pflanzenbildern bemalt. Er fühlt sich stark von seiner Schwägerin angezogen und schlägt ihr vor, ihren Körper zu bemalen. Sie wiederum findet die Körper mit all den wunderschönen bunten Blumenbildern sehr anziehend und so endet das ganze künstlerische Experiment in einer Sexszene: der Künstler lässt seinen Körper auch bemalen und vereinigt sich mit dem von Yong-Hye. Noch dazu filmt er die Szene, um daraus eine Performance zu machen und sie auszustellen. Leider ertappt die Schwester die beiden und sieht auch das Video. Sie lässt beide in die Psychiatrie einweisen.
Der letzte Teil Bäume in Flammen erzählt die Geschichte weiter aus der Sicht der Schwester, die „nicht mehr jung und auch nicht sonderlich schön [ist]. Aber ihr Nacken beschreibt eine elegante Linie, und sie hat ehrliche Augen.“ Sie als einzige bemüht sich um ihre kranke Schwester, die immer mehr in ihre Welt entgleitet und sich allen Versuchen verweigert, sie zu ernähren. Letztendlich muss sie zwangsweise künstlich ernährt werden, doch nach mehreren Versuchen geben die Ärzte und auch die Schwester auf. An dieser Stelle fallen auch die Sätze: „Sie sieht die Wahrheit klar und deutlich: Wenn nicht ihr Mann und Yong-Hye die Ersten gewesen wären, die Grenzen überschritten und damit ihre heile Welt zerstört hatten, dann wäre es wahrscheinlich sie selbst gewesen, die sich aufgelöst hätte und auf Nimmerwiedersehen verschwunden wäre.“ Auch In-Hyes Welt, die Welt der ordentlichen, disziplinierten Schwester gerät aus den Fugen: „In-Hyes Blick ist düster und starr. Wartet sie auf eine Antwort? Lehnt sie sich gegen etwas auf?“, so endet das Buch.
Die Handlung, die ich hier beschrieben habe, hört sich hoch dramatisch und außergewöhnlich an, doch sie wird sehr nüchtern und ganz unaufgeregt beschrieben. Alle Personen sind minimalistisch, auf zurückhaltende Weise gezeichnet und trotzdem oder gerade deswegen sind ihre Handlungen so verstörend. Das Buch zieht einen in seinen Sog und lässt nicht los, es ist fast hypnotisierend, weil alle Helden so gewöhnlich und alltäglich wirken und die Dinge doch passieren. Auch die Verantwortung der Kunst, der Künstler, der Familienzusammenhalt, Mann-Frau Beziehungen spielen eine Rolle. Yong-Hey ist eine Antiheldin, die sich selbst vernichtet, sich gegen etwas auflehnt, wovon sie nicht einmal weiß, was es ist. Es entstehen am Ende lauter Fragen, die wir mit uns herumtragen, und die Antworten fallen immer wieder anders aus – und das ist gut so.
