Monika Wrzosek-Müller
„Spaziergang nach Syracuse“ – mit Flugzeug, Zug, Bus und letztendlich Taxi
Ich dachte eigentlich alle Wege würden nach Rom führen, doch realisiert habe ich gerade „den Spaziergang nach Syrakus“; zwar mit Johann Gottfried Seume im Kopf, aber nicht in den Beinen. An sich, denke ich, wäre die langsame Art sich dem Ziel zu nähern die richtige und faszinierendste. Wie der Schriftsteller aus dem späten 18. Jh. alle Etappen, Landschaften, Klimazonen Schritt für Schritt zu durchwandern. Doch wir steigen leider nur ins Flugzeug und landen dann, mit besserem oderschlechterem Ergebnis, ein paar Tausend Kilometer weiter, in einer anderen Welt, in einem anderen Klima, mit ganz anderen Menschen und einer anderen Kultur. Das schrittweise Vorangehen erlaubt uns das Ziel hinauszuschieben, sich darauf innerlich vorzubereiten, vielleicht auch mehr zu freuen, auf das Ankommen hinzuarbeiten.
Diesen langsamen Weg hat auf jeden Fall der eigensinnige und fleißige, vielleicht sture und stolze, oben erwähnte deutsche Schriftsteller Johann Gottfried Seume gewählt. Er durchwanderte ca. 6000 Kilometer; gestartet ist er wirklich in Leipzig, ging über Dresden, Wien nach Graz, dann weiter Triest und Friaul, Venedig, weiter in Italien zu den Städten Bologna, Florenz, Rom, und Neapel. Unterwegs wird er manchmal in eine Kutsche mitgenommen, mal lässt er sich von Maultieren oder Eseln mit einem Führer begleiten oder er reitet selbst; von Neapel setzt er mit dem Schiff nach Palermo über, sonst ist er wirklich immer zu Fuß unterwegs. Er wählte Syrakus, weil er sich der antiken griechischen Kultur nahe fühlte; er konnte Altgriechisch und Latein, hatte auch einige Empfehlungsbriefe für verschiedene Stationen seiner Reise bekommen. Bedenken wir, dass Syrakus einst die größte griechische Stadt außerhalb des griechischen Territoriums war. Wenn man die Ausdehnung der antiken Stadt vor Ort vor Augen hat, ist man richtig überrascht und überwältigt. Die Stadt musste wirklich riesig gewesen sein. Seine Reisebeschreibungen sind sehr nüchtern, knapp ohne lange Passagen kunsthistorischer Ausführungen; er schreibt, wie er seinen Alltag während der Reise bewältigt, was und wo er isst, wo er übernachtet, mit wem er spricht. Auf jeden Fall nimmt man vielleicht etwas erstaunt wahr, wie viele Menschen zu seiner Zeit (um 1800) fremde Sprachen gesprochen haben, wie selbstverständlich sie sich auf Französisch, Deutsch,Italienisch manchmal auch Englisch verständigten und wenn es gar nichts ging, holten sie auch ihr Latein hervor; wie viele Menschen doch zu dieser Zeit unterwegs waren, wie letztlich gut organisiert das Reisen damals doch war.
Gleich zwei Bücher habe ich bei dieser Reise im Kopf: den schon erwähnten „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ und ein viel neueres Buch von 1998 „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“ von Friedrich Christian Delius. Die gelungene Beschreibung eines bravourösen Abenteuers, das es wirklich gegeben hat. Der zweite „Spaziergang“ war umso schwerer, denn am Anfang stand die Überwindung einer ärgerlichen Grenze, nämlich der DDR-Grenze. Der Held Paul aus Sachsen, als Kellner an der Ostsee, in Rostock arbeitend will unbedingt auf den Spuren von Seume nach Syrakus. Die Vorbereitung auf diese Reise hat sieben Jahre gedauert; er lernt dafür segeln und überlistet alle, auch seine Frau, die von seinem Vorhaben keine Ahnung hat. Letztlich gelingt ihm ein Segeltörn von Hiddensee nach Dänemark und dann weiter nach Westdeutschland. Wie erstaunt sind dann die westdeutschen Beamten, als er ihnen erklärt, dass er gar nicht als Flüchtling anerkannt werden will. „Moment, wieso nach Gießen?“ „Da ist die zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge aus der DDR“. „Das weiß ich. Aber nun mal schön langsam! Ich will doch gar nicht nach Gießen! Ich bin DDR-Bürger, ich bin gekommen, weil ich eine Deutschland- und Italienreise machen will, die man mir nicht genehmigt hat, ich will nicht nach Gießen, ich will nach Rostock zurück! Die beiden verstehen nichts, und Paul denkt: So sehen unsere auch aus, anders gekleidet, aber ähnlich stupide und arglistig höflich.“ Auf jeden Fall gelingt ihm dann das ganze Unternehmen, allerdings geht er nicht zu Fuß, sondern ist mit Zügen und Bussen unterwegs. Einige Enttäuschungen muss er auch einstecken. Delius stellt am Anfang seiner Erzählung ein Zitat aus dem Seume Buch „…und der letzte Gang nach Sizilien war vielleicht der erste ganz freie Entschluss von einiger Bedeutung.“
In beiden Fällen war es kein Spaziergang; oft war es nicht angenehm. Seume erlebt viele schlimme Situationen, lernt schlechte Menschen, Diebe, Räuber kennen, auch ganz schlechte Unterkünfte. Doch es gibt auch viele tolle Zufallsbekanntschaften, Einladungen, offene Häuser, freundlich ihm zugewandte Gesprächspartner. Der andere Held muss immer wieder sparen und schnell die Währungen umrechnen, ist von der Vielfalt und den Preisen oft überwältigt und er reist allein und so fühlt er sich auch. Letztendlich treibt ihn der Gedanke an seine Frau zur Eile, die er im Unwissen
gelassen hat, und so beschleunigt er die Rückkehr in die DDR.
Warum wählen die beiden Schriftsteller den Begriff „Spaziergang“? Von einem Spaziergang sprechen wir, wenn der Weg angenehm, gut hergerichtet, mühelos und überschaubar ist. All das trifft für die beiden Reisen nicht zu. Vielleicht steckt dahinter ein Hauch von Ironie und Zweifel, ob diese Reise auch wirklich gelingen kann. Ein Spaziergang macht man eben nebenbei.
Das Flugzeug landet in Catania, es ist wolkig und wie neblig, man sieht wenig. Manchmal kommt aus den Wolken der Ätna zum Vorschein, der verschneite Gipfel, aus dem immer eine kleine Rauchfahne emporsteigt. Unten ist alles bebaut, soweit das Auge reicht ein Häusermeer, noch sehe kein Wasser, kein Meer. Wir fahren mit der Bahn weiter nach Syrakus, leider fällt ein Zug aus und wir warten sehr lange auf einer leeren, neuen Bahnstation mit anderen jungen Touristen. Es ist windig und wirklich kalt, oben zeigt sich ab und zu die majestätische Spitze des Vulkans. „Gut, dass ich so viele warme Sachen angezogen und mitgenommen habe“, das ist mein erster Gedanke. Doch später, während der Fahrt, sehe ich, dass so viele Blumen blühen: Glyzinien, Mimosen, auch mir unbekannte Pflanzen, weiter Mohn und viele wilde Wiesenblumen, hauptsächlich in Gelb. Wir sehen ein Meer von Zitrusbäumen, gleich viele Orangen wie Zitronen, blühend und früchtetragend, behängt, möchte man sagen, wie Weintrauben. Es ist unheimlich grün, saftig grün, soweit wir sehen können; folglich es nicht immer so kalt sein.
Dann beginnt sich die Landschaft zu ändern; auf den letzten 35 Kilometer ziehen unheimliche Bilder vor unseren Augen vorbei, es sind alte und neue Fabriken, Industrieanlagen, Ölraffinerien, Öltanks; ein Gemisch aus Ruinen, verrosteten, völlig kaputten Häusern und neuen, unlängst gebauten Tanks und sonstigen Anlagen. In Augusta, einer kleinen Stadt unweit von Syrakus, werden Erdölprodukte, Kunststoffe, Beton produziert, auch werden angeblich Schiffe gebaut. Aber auch in anderen kleinen Ortschaften wie Priolo Gargallo geht man mit der Industrie voran, obwohl alle diese Ortschaften antike Stätten waren. Aus manchen Schornsteinen steigen riesige Rauchwolken in die Luft, andere liegen still. Das zieht sich unheimlich lange, der Zug fährt auf diesem Abschnitt auch langsam; in den Häfen liegen zum Teil völlig verrostete Schiffsskelette, aber auch normale, beladene Handelsschiffe; es ist schon eine unheimliche Welt, in die wir gerade reinfahren. Oft sehen wir große Schilder desrussischen Mineralölkonzerns LUKOIL; es gibt Tankstellen von dieser Firma, sie finanziert auch Gärten und öffentliche Gebäude wie Museen hier in der Gegend. Ich denke, was ist mit den Sanktionen gegen Russland, was geht hier eigentlich vor sich hin? Die Umweltverschmutzung sieht man mit bloßem Auge, auch dass der Konzern weiterarbeitet.
Irgendwann fahren wir dann in den kleinen, bescheidenen Bahnhof von Syrakus ein, werden von unseren Vermietern begrüßt und von ihnen in die Wohnung in der Altstadt am Rande von Ortigia, einer Insel, auf der sich die Altstadt von Syrakus befindet, gebracht. Das Apartment ist geschmackvoll eingerichtet, sehr sauber und ordentlich. Der Müll wird penibel in vier Behälter getrennt. Es ist wieder mal eine ganz andere Welt, fast märchenhaft, wunderschöne alte Palazzi mit filigranen Balkonen, Kirchen mit opulenten barocken Fassaden, mit runden Kuppeln, Straßen mit Marmor ausgelegt, Ruinen von antiken, griechischen Tempeln; alles Weltkulturerbe, schön in Stand gesetzt, in das Tausende von Touristen jeden Tag über die zwei Brücken strömen. Wir sind in Syrakus angekommen.
