Monika Wrzosek-Müller
Kalte Füße – nicht nur von Francesca Melandri
Schon wieder gab es einen Brief, von 38 Prominenten unterschrieben, initiiert von zwei Frauen, die ganz offensichtlich nicht müde werden, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen; die eine lebt diese Lust noch stärker aus, indem sie jetzt sogar eine Partei unter ihren Namen anführt. Dass ein solcher Brief noch einmal auftaucht, der von einem dritten Weltkrieg tönt und uns durch Angst von der Hilfe für die Ukraine abbringen will (und leider bei manchen auch auf Zustimmung stößt), finde ich traurig, richtig tief deprimierend. Denn die Ukraine im Winter des dritten Kriegsjahres verdient nichts anderes als unsere Unterstützung und die hatte ich mir eigentlich uneingeschränkt von der deutschen Seite gewünscht.
„Nun sagen viele gut meinende Menschen: `Wir wollen doch nur, dass der Frieden herrscht`. Doch was bringt es, inmitten eines schrecklichen Schneesturms zu sagen: `Wir wollen doch nur, dass Sommer ist`.“
Gerade lese ich aber ein Buch, das mich für vieles entschädigt und wirklich vieles ins richtige Licht rückt und historisch aufschlüsselt. Leider ist das Buch nicht von einem deutschen Autor, sondern von einer sehr guten, interessanten italienischen Schriftstellerin Francesca Melandri: „Kalte Füße“. Mag sein, dass es in Eile geschrieben wurde und sich aller Genres bedient. Dazu sagte die Autorin selbst in einem der vielen Interviews zur Buchmesse in Frankfurt: sie habe das Buch mit Leidenschaft, fast obsessiv und „maniakal“ geschrieben. Sie wolle keine Richterin über die Zeiten des Zweiten Weltkrieges noch über ihren Vater sein, doch sie müsse für sich alles überprüfen, beschreiben, festhalten und vielleicht dadurch besser verstehen.
Der Titel des Buches wäre ihr auch sofort eingefallen, „Piedi freddi“, dazu schreibt sie auch: „to get cold feet“, „kalte Füße bekommen“, das sagt man auf Englisch oder Deutsch „wenn sich jemand aus Angst seiner Aufgabe nicht stellen möchte“. Auf Italienisch heißt das „tirarsi indietro da un impegno“. Doch die kalten Füße, piedi freddi, sind eben auch wortwörtlich gemeint. Die ganze Ausstattung und Ausrüstung der Alpini, einer italienischen Brigade, die die deutschen Truppen im Kampf in der Sowjetunion unterstützt hat, war milde gesagt den Umständen nicht entsprechend und sie starben wie die Fliegen, mit erfrorenen Gliedern, besonders erfrorenen Füßen. Der Rückzug über die Weiten der ukrainischen Steppe – denn die sog. „Ritirata di Russia“, der Rückzug vom sogenannten Russlandfeldzug spielte sich eigentlich größtenteils in der Ukraine ab – die „Kolonnen zerlumpter, notdürftig in Decken und Mäntel gehüllter Soldaten, wie wir sie von den Fotos des Rückzugs aus Russland kennen… Nur du und deine armen Alpini sind zu sehen, ihr lauft durch die eisige Steppe… ihr seid trunken vor Müdigkeit und habt vor allem kalte Füße“. Doch einige von ihnen finden ihr Glück: „Dann endlich entdeckt ihr den größten Schatz in dieser Wunderhöhle: Walenki! Diese weichen und warmen Filzstiefel, die ihr an den Füßen der russischen Bauern gesehen habt, die in Wahrheit ukrainische Bauern waren… Dank der Walenki konnten du und deine armen Alpini nach Hause zurückkehren“.
Ja, worum geht es in dem Buch? Es ist eigentlich ein langer Brief an den Vater, der nicht mehr lebt und keine Antworten auf die von der Tochter gestellten Fragen geben kann. Für Melandri handelt es sich neben der liebevollen Auseinandersetzung mit der Person ihres Vaters vor allem um den Krieg, den Zweiten Weltkrieg, um die Rolle ihres Vaters als Leutnant bei den Alpini, aber auch um die Rolle Italiens darin, um die Schuld, die sie auf sich genommen haben, das Land und der Vater, um die Aufarbeitung danach… aber auch und vor allem um den jetzigen Krieg in der Ukraine. Wie ein Mantra wird in fast jedem Kapitel wiederholt (und das gilt wirklich für fast alle der 32 Kapitel): „Und erst jetzt , wo ich ein halbes Jahrhundert später die Ortsnamen des damaligen Krieges wiedererkenne – Sumy, Charkiw, Luhansk begreife ich es: Deine berühmten „russischen Frauen“, von denen du immer mit großen Augen gesprochen hast, in denen mehr lag als Dankbarkeit – eher ein Gefühl, das die Sonnenblumen für die Sonne hegen oder die kalten Füße für den Ofen -, deine Retterinnen, das waren keine Russinnen.
Sie waren Ukrainerinnen.“
Oder: „Aber über die Ankunft von Dir und deinen armen Alpini in diesem Russland, das ja größtenteils die Ukraine war, wurde nie mehr gesprochen“… und immer wieder: „…wenn du von deinem Rückzug aus Russland [sprachst], der größtenteils ein Rückzug aus der Ukraine war…“, in allen möglichen Varianten.
Melandri will uns und sich selbst klarmachen, warum der Krieg, sowohl der Zweite als auch der jetzige, immer wieder in der Ukraine stattfand und wie wenig wir eigentlich von den ganzen Verbrechen, die dort passiert waren, wissen, vom Holodomor, von Babi Jar usw…
„Fluch und Segen der Ukraine: ihre äußerst fruchtbare und ertragreiche Schwarze Erde, wegen der im Lauf der Jahrhunderte immer wieder jemand vorbeikam… Also kamen Stalins Funktionäre, um die ukrainischen Bauern zu bestrafen, die nicht genug Begeisterung für den Kommunismus zeigten, raubten ihnen alles, was essbar war – neben Getreide auch Kartoffeln, Obst und Vieh -, und ließen Millionen Verhungerte zurück.
Dann kam Hitler, der nicht mitansehen konnte, wie der ganze schöne Weizen an die Ukrainer vergeudet wurde, anstatt damit das arische Herrenvolk zu ernähren, also verkündete er: „`Ich brauche die Ukraine, damit man uns nicht wieder, wie im letzten Krieg aushungern kann. Er nannte dies den `Hungerplan`- den minderwertigen Slawen das Brot und das Leben wegzunehmen, um damit den Hunger der Deutschen zu stillen.“
Sie thematisiert Schritt für Schritt, wie es sein kann, dass es im Westen immer noch Leute gibt, die in Italien „putinisti“ genannt werden und sich lieber mit dem Diktator und imperialen Herrscher Putin einigen wollen als der Ukraine zu helfen. „Für viele von uns Europäern des Westens gab es auf der Landkarte des heiligen Orts, den wir Europäische Kultur nennen, stets eine Art Flyover-Zone, die man mit guten Gewissen ignorieren konnte…: eine gestaltlose riesige Fläche, bewohnt von zurückgebliebenen, wenn nicht reaktionären Menschen, von armen Schluckern und Bauern, vielleicht ein paar Pflegerinnen und Bauarbeitern, noch dazu allesamt Slawen. Aber eben nicht die faszinierende Art von Slawen wie diese Russen – durchgeknallte Adelige oder revolutionäre oder Avantgardisten -, von denen wir Europäer des Westens uns so gerne schockieren lassen. Nein, ganz normale Slawen, die wir Italiener auch deshalb für armselig und uninteressant halten – was wir lieber nicht laut sagen -, weil wir uns nie mit der antislawischen Verachtung auseinandergesetzt haben…“
Sie erklärt aufs Genaueste die Haltung vieler westlicher Europäer zu diesem neuen Krieg in dem Kapitel unter dem bezeichnenden Titel: Eitelkeit : „Also: Wenn wir im Westen uns weiterhin auf unsere verantwortungslosen kalten Füße berufen und die Ukraine einem eingefrorenen Konflikt überlassen – noch so eine heuchlerische Kälte-Metapher: Soll sie sich doch einfach hin und wieder verprügeln lassen und mal mehr, mal weniger im Haus des gewalttätigen, sie misshandelnden Mannes leben-, und damit die Grundlagen für einen weiteren Krieg in ein, zwei Jahren schaffen; wenn wir all das zulassen und erst dann, wenn es zu spät ist …- erklären, wie schuldig wir uns fühlen: Dann wäre das ein wirklich erbärmliches, verabscheuungswürdiges Schauspiel.“
Überhaupt gibt es viele Gedanken zum Phänomen des Krieges, wie es z.B. ist, auf der falschen Seite in einem Krieg zu kämpfen und dann damit leben zu müssen; oder: „Welches Geschlecht hat der Krieg, Papa?…“
„Wenn eine Rakete auf dein Haus gerichtet ist, spielt es keine Rolle, ob du ein Mann, eine Frau oder ein Kind bist“, habe ich eine ukrainische Soldatin einmal in einem Interview sagen hören. Sie heißt Jewgenija und ist eine äußerst treffsichere Scharfschützin. Dann hat sie hinzugefügt: „Der Krieg hat kein Geschlecht“.
Dabei aber spielt Melandri doch auf die ungeheuerlichen Vergehen der Soldaten an, sowohl der russischen jetzt als auch denen der Italiener oder Deutschen damals im Zweiten Weltkrieg – in denselben Gebieten; der Krieg ist körperlich, die Menschen werden getötet, misshandelt, vergewaltigt, ausgehungert… das alles spielt im Krieg mit.
Bezeichnend ist auch die Geschichte des Vaters und seiner Tapferkeitsmedaille, über die er immer wieder die Familie glauben ließ, er hätte sie bekommen, weil er einige Soldaten-Alpini lebend nach Hause gebracht hatte. Leider, und das Wort spielt eine große Rolle, leider ist die Tapferkeitsmedaille in Silber, dotiert mit einem Ehrendsold von 12.000 Lire jährlich, dem Leutnant des Alpini-Bataillons nicht für Abzug vom Schlachtfeld, sondern für einen Gegenangriff auf feindliche Stellen verliehen worden. „Unter heftigen Beschuss und die Gefahr verachtend durchbrach er die feindlichen Linien und brachte die gefährliche Mission zu Ende“. Und das Folgende mutet fast komisch, wenn es nicht tragisch wäre: ausgerechnet „im April 2022 votierte das italienische Parlament für einen Tag des Nationalen Gedenkens an den Opfermut der italienischen Gebirgsjäger und legte den 26. Januar, den Jahrestag der Schlacht von Nikolajewka“ als Gedenkdatum fest. Der Vater war dabei und es ist dasselbe Nikolajewka, bei Krematorsk, Oblast Donezk, das von den Russen unlängst, in dem neuen Krieg in der Ukraine, annektiert wurde.
Noch ein Aspekt, der im Melandris Buch angesprochen wird und mir besonders wegen der Geschichte meiner Familie am Herzen liegt, will ich ansprechen. Die Frauen meiner Familie wurden allesamt von den Russen im April 1940 aus Lemberg in die weite kasachische Steppe verschleppt. Sie haben sich später mit unheimlicher Mühe nach Semipalatinsk durchgeschlagen. Doch die Erzählungen von der Steppe, der weiten, eisigen aber auch der heißen, brennenden und den Kasachen, Tschuwaschen und Mongolen, die dort lebten, begleiteten mich als Kind und sind bis heute lebendig geblieben. Vor zwei Jahren habe ich dann die Weiten der anatolischen Steppe persönlich erlebt, aber eigentlich wollte ich auf etwas anders hinaus; es hat mich unheimlich gefreut, und das fand ich in diesem Buch, dass der ehemalige Präsident der Mongolei Tsachiagiin Elbergdordsch im September 2022 folgende Worte fand: „Ich bin einer von acht Söhnen eines Nomadenschäfers. Ich bin einer von euch, ich liebe die Freiheit und Frieden, und ich bin ein stolzer Bürger der freien und unabhängigen Mongolei. Ich habe eine einfache Botschaft an Präsident Putin: Beenden Sie den Krieg. Die mongolischen Burjaten, Tschuwaschen und Kalmücken leiden extrem unter dem Krieg, sie werden als Kanonenfutter und sonst nichts benutzt. Wir Bürger der Mongolei werden euch mit offenen Armen und offenen Herzen empfangen, wenn ihr fliehen wollt. Ich habe auch eine Botschaft für diejenigen mitgebracht, die gezwungen werden in Putins Krieg gegen die Ukraine zu kämpfen: schießt nicht auf Ukrainer. Schießt nicht auf eure Brüder und Schwestern, auf Greise und Kinder. Tötet nicht ihr Land. Tötet nicht ihre Freiheit. Die Ukraine hat ein unumstößliches Existenzrecht.“ Die Landbevölkerung erinnerte meine Mutter immer mit großer Hochachtung.
Die Beobachtungen von Melandri sind eindringlich, entlarvend; sie schreibt tapfer gegen die familiäre, heimatliche Erzählung. Dabei verflechten sich wie ein dicker Zopf darin die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg, besonders die Geschichte der Brigade der Alpini, die Familiengeschichte besonders die Vater-Tochter Beziehung, und der dritte Strang, der alles zusammenzieht und provoziert ist der Angriffskrieg der Russen gegen die Ukraine. Das Buch ist für uns alle „wie eine Einladung an ihn (den Vater) sich diesen heutigen Krieg zusammen anzuschauen und durch die Augen von einem, der einen Krieg leider erfahren hat“, zu sehen.
Ich habe bei weitem nicht alle Aspekte, dieser Verflechtungen und Bedingungen hier angeführt; es bleibt jedem selbst überlassen das Buch zu lesen und sich seine eigenen Gedanken zu machen.
Alle Zitate entstammen dem Buch „Kalte Füße“.

EINE KLEINE FRIEDENSTRILOGIE
Dunkle Schatten liegen über der Menschheit,
auf dem Globus Kriege, Terror, großes Leid.
Man mag an einen Gott glauben oder nicht,
Frieden und Freiheit braucht der Mensch,
wie das Licht .
GIVE PEACE A CHANCE
Der Mensch lernte aufrecht zu geh’n,
doch auch , and’re als Feind zu seh’n.
Mit Kain und Abel alles begann,
Streit und zahllose Kriege fortan.
Weltweit wüten Folterknechte,
pfeifen auf die Menschenrechte.
Die Aggression als Staatsdoktrin,
Invasoren eine Blutspur zieh’n.
Jesu’ Botschaft weiterzutragen,
ist geboten in diesen Tagen.
Spielet lieber die Gitarre,
als zu tragen eine Knarre.
Lasst die weißen Tauben fliegen,
Aggression und Hass besiegen.
Für die Zukunft des Planeten,
weg mit Panzern und Raketen.
Keiner ist des Anderen Knecht,
für alle gilt das Menschenrecht.
Jeder kann glauben, was er will,
Frieden und Freiheit unser Ziel.
Die Leute legen ab den Neid,
die Religionen ihren Streit.
Fromme und Heiden sind vereint,
uns’re Sonne für alle scheint.
Mit oder ohne Religion,
Welt ohne Kriege die Vision.
FRIEDEN JETZT
Wir sollen zum Kriege taugen,
da reibt sich jeder die Augen.
Ein Minister ist der Ansicht,
des Volkes Wille ist es nicht.
Kriege fordern Opfer weltweit,
millionenfach unsäglich’ Leid.
Zahllose Tränen sind geweint,
stoppen wir die Gräuel vereint.
Gegen den Hunger in der Welt,
nicht für Aufrüstung unser Geld.
Dem Blutvergießen ein Ende,
Völker reichen sich die Hände.
Allen Menschen Gerechtigkeit,
Leben in Frieden und Freiheit.
DIE WAFFEN NIEDER
Der Papst ist von uns gegangen,
Frieden konnt’ er nicht erlangen.
Es ist uns allen aufgetragen,
dem Krieg den Kampf anzusagen.
Zu viel Blut ist schon geflossen,
bitt’re Tränen sind vergossen.
Nichts rechtfertigt tödlichen Streit,
zum Ziele führt nur Menschlichkeit.
Dass Christen , Moslems und Juden
nicht länger sinnlos verbluten.
Ende der Waffenexporte ,
Abrüstung an jedem Orte.
Atomwaffenfrei die Erde,
dass sie nicht zur Wüste werde.
Mit oder ohne Religion,
Frieden auf Dauer die Vision.
Rainer Kirmse , Altenburg
Herzliche Grüße aus Thüringen