Die Frage nach Authentizität

Monika Wrzosek-Müller

Be yourself – die Frage nach Authentizität

Die Suche nach eigenem wahren Ich, nach Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit, nach einem echten, unverfälschten Ich beschäftigt uns Menschen seit wir Nachdenken und darüber schreiben. Für Aristoteles ist das Ziel des menschlichen Handelns das Streben nach Glück, das im “guten Leben” verwirklichte Glück, und weiter ist dieses Glück “immer nur um seiner selbst Willen und niemals um eines anderen willen…” Shakespeare empfahl durch Hamlet: “Dies über alles: Sei dir selbst treu.” Man solle das tun, was man selbst für richtig halte, und nicht was den anderen gefalle oder dir finanzielle Vorteile brächte. Wenn ich an meine Yoga-Ausbildung zurückdenke, war der Begriff satya, satyam – Wahrhaftigkeit, Klarheit, Transparenz, Vollkommenheit – einer der wichtigsten auf dem Yoga Weg. Bei Patanjali, dem Hauptdenker des Yoga, bildet er neben den vier anderen ethischen Vorschriften der Yamas (… ahimsa – nicht verletzen, asteya – Ehrlichkeit, nicht betrügen, brachmacharya – sexuelle Enthaltsamkeit, aparigraha – Unbestechlichkeit) den ersten, den man befolgen sollte, um das Nirwana, die Erleuchtung zu erreichen. Der Mensch hat ein tiefes Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit, Vertrauenswürdigkeit, nur so kann er auch glücklich werden: sat-chid-ananda – der Zustand des ewigen, bedingungslosen Glücks. Auch in den Upanishaden und anderen alten indischen Schriften spielen diese Überlegungen eine große Rolle. Interessant: viele Religionen bieten eine Lösung durch Gesetze und Gebote an, denen man folgen sollte; das wahre Ich wird dabei oft übersehen. Yoga ist keine Religion, es bietet einen Weg, ist ein Vorschlag für die eigene Entwicklung; vielleicht bildet der Buddhismus eine Ausnahme, ist am wenigsten dogmatisch und lösungsorientiert. Unsere Religionen bauen eher auf Hierarchien und die schon angesprochenen Gebote, Verhaltensmuster, denen man gehorchen sollte, um das Seelenheil und die Erlösung von den Sünden zu erlangen.

Ich lese gerade Jenny Erpenbecks Buch Kairos, das über das Ende der DDR berichtet und dieses in ein sehr kompliziertes Verhältnis zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau einbettet. Und da denke ich: welche Möglichkeiten hatten wir damals im Sozialismus, uns selbst zu verwirklichen, zu entdecken, letztendlich zu leben; aber vielleicht beschäftigte uns diese Frage auch weniger, für manche ging es viel existenzieller ums Überleben.

“Aber hat sie nicht versprochen, von jetzt an immer ehrlich zu sein? Aber ehrlich sein ohne Freiheit zum Nein sagen ist unmöglich. Aber ihm Nein sagen, wenn er sich aus der Enttäuschung flüchtet in ihren Schoß? … Dann wird aus der Hingabe doch eine neue Lüge. Die Aber stehen um sie herum wie ein Zaun, der unüberwindlich ist.”

“Nach den Vorfällen vom 7. Oktober hat der Dozent für Politökonomie in seiner Vorlesung auf die Proteste Bezug genommen und von “Konterrevolution” gesprochen, da ist Katharina mit acht oder neun anderen mitten in der Vorlesung aufgestanden und hat den Raum verlassen. … Noch eine Stunde später hat sie einen Kloß im Hals gehabt – aus Rührung über ihr eigenes Empörtsein. … Ist jeder Heldenmut eitel? Und erst wenn er tatsächlich mit dem Tod oder schweren Strafe bezahlt werden muss. Wird die Eitelkeit ausgelöscht?”

Nein, die Fragen waren etwas andere: es ging darum weiter zu leben und voranzukommen, ohne sich total verbiegen zu müssen. Doch manche lebten ihr Leben lang in Lügen, verstellt und unehrlich gegen sich selbst.

„Und als sie zur Kunstgeschichtsvorlesung hinkommen, steht da ihr alter Professor, der über das Ischtar-Tor zu Babel mehr weiß als jeder andere Mensch auf der Welt und keiner Fliege etwas zuleide tun könnte, der schlägt sich auf die Brust und bezichtigt sich selbst, er habe nicht laut genug die Stimme erhoben gegen Unrecht. Aber die Gratwanderung, sagt er die Gratwanderung habe nicht primär die Parteileitung ihm auferlegt, sondern seine Eltern. …Glücklich bin ich darüber, sagt er, aber er sieht jetzt eher erschöpft aus als glücklich, glücklich bin ich darüber, nun die Sklavensprache abwerfen zu können.
Unglücklich darüber, dass ich sehe, wie mein Volk in den Abgrund stürzt und ich es nicht zurückreißen kann. …“

Auf unsere Zeit jetzt, hier im angeblich wohlbehüteten Westen, bezogen, bedeuten diese Fragen wiederum etwas anderes; sie gehen auf eine andere Ebene, betreffen das Individuum und seine Suche nach Identität, nach seinen Grenzen, sind moralisch konnotiert. Und dennoch drängt sich der Gedanke nach Authentizität vielleicht noch stärker auf. Denn wir leben umgeben von der Digitalen Welt in einer Blase, die auch vieles verschönern, aber auch verstärken oder, ja, auch sehr schnell verfälschen kann. Denken wir an die fake news, an die Programme bei der Bildbearbeitung, die alles retuschieren, aufhellen, kontrastieren und anders beleuchten können. Denken wir an die vielen InfluencerInnen, die uns das schöne Leben vorleben, mit konkreten Vorschlägen für Möbel, Essen, Kleidung, sogar die Bücher, die wir lesen sollen… Da ist wirklich wenig Platz für das Echte, Spontane, ja, auch Hässliche. Da wird die Auswahl oft für uns getroffen und wir fühlen uns verpflichtet, ihr zu folgen. Und eigentlich müssen wir immer wieder alles neu denken, überdenken und uns positionieren, nach unseren Maßstäben, nach unserem Willen und Gutdünken.

Neulich las ich in der Zeitung, dass es inzwischen eine App geben soll, die Menschen daran erinnern soll, unverstellt und authentisch zu sein…! Einmal am Tag ein ungekünsteltes Foto von sich und der eigenen Umgebung zu schießen, ungeschminkt und unaufgepeppt, dabei sich selbst präsentieren. Ich denke, damit müssten sich Psychotherapeuten, Psychologen viel dringlicher beschäftigen, schon früher beschäftigt haben. Doch die Neigung zum extremen Individualismus und dabei zum Narzissmus steigt. Das hat dann wieder mit dieser viel beschworenen Authentizität letztlich nicht viel zu tun, und doch ist es manchmal die Folge der Suche danach. Denn um authentisch zu sein, muss man sich selbst kennen, die eigenen Emotionen ausdrücken, Bedürfnisse befriedigen, Werte und Überzeugungen haben und sie leben. Die digitale Welt bietet uns eher die Flucht davor, die reale Welt ist dann oft zu hart und zu schwer. Dem versuchten schon in den 60er Jahren die Hippies in den Kommunen zu entkommen; es war ein Appell gegen die gewalttätige Welt draußen, gegen den Vietnam-Krieg, aber auch gegen die Macht des Geldes, gegen die äußeren Schranken, die den jungen Menschen auferlegt wurden, im Widerspruch zu den ganzen Parolen von Freiheit und Demokratie.

Auf jeden Fall ist ein Leben ohne Übereinstimmung mit eigenem Selbst oft qualvoll und höchst unbefriedigend, daher die Suche nach dem wahren Ich. Oft wissen wir doch nicht, was und wie wir sind; einerseits neigen wir zu Übertreibungen und andererseits eher dazu, unsere positiven Seiten zu sehen, das ideale Selbst als das wahre zu präsentieren. Die Aufgabe ist auch umso schwieriger, je mehr Erziehungsnormen und Verhaltensmuster uns auferlegt wurden, denen wir dann unbewusst folgten. Viele denken dabei, sie hätten eigentlich ein klares Bild von sich selbst; doch je intensiver sie sich damit beschäftigen, desto weniger sind sie sich dessen sicher. Deswegen sind solche Figuren wie Pooh der Bär, ein etwas einfacher, naiver, um nicht zu sagen beschränkter Bär, aus dem Kinderbuch von A. A. Milne mit seinen Beobachtungen und Reflexionen für Kinder so wichtig, nicht alles, was als perfekt, glanzvoll und vorbestimmt daherkommt, ist erstrebenswert und wahr, sondern manchmal kommt es mühsam, in einem Lernprozess, zwei Schritte nach vorne und einer zurück. Zitat: „Das Leben ist eine Reise, die man erleben muss, nicht ein Problem, das man lösen soll.“ Auf polnisch gab es immer ein anderes Zitat, das mir noch in Ohren klingt: „Im bardziej Puchatek zaglądał do środka, tym bardziej Prosiaczka tam nie było“ [Je mehr Pooh hineinschaute, desto weniger war das Ferkel drin“].  

Sich von den vielen Fesseln zu befreien, bedeutet oft, sehr lange zu irren auf verschiedenen, verschlungenen Wegen zu gehen, über Religiosität, Spiritualität – Psychologen, Psychotherapeuten konsultierend – manchmal nacheifernd in von anderen ausgedachten Fallen zu tappen; es braucht Offenheit, Toleranz, auch Demut und Zuversicht auf der Suche nach dem wahren Ich.

One thought on “Die Frage nach Authentizität

  1. Świetne zdanie:

    “Zostań sobą, bo wszyscy inni są już zajęci” (Oscar Wilde).

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