Liane Berkowitz

Michael Meinicke

Das folgende Hörspielmanuskript hatte ich vielen deutschsprachigen Sendern angeboten (auch Schweiz und Österreich). Mehrere Absagen kamen mit dem Vermerk – das Thema sei nicht aktuell.
Ein Exemplar befindet sich zur Einsicht in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand: Bendlerblock
.

Seepferdchen

Hörspiel in zehn Teilen zur Erinnerung an die Opfer der ROTEN KAPELLE.
Liane Berkowitz war die Jüngste. Sie wurde am 5. August 1943, in Berlin / Plötzensee mit dem Fallbeil ermordet.

Hörspielstimmen:

Liane Berkowitz als Kind / als junge Frau / Briefstimme
Lehrer
Mutter Berkowitz
Billy Wilder als junger Mann
Lehrer der Heilschen Privatschule
Frau Harnack
Zeitungsjunge
Herr Rittmeister
Friedrich Rehmer
Libertas Schulze-Boysen (Lips)
Eine Polizeistimme
Kommissar Strübing
Richter
Sprecher für den Roman (Sven Hedin)
Mitgefangene
Hebamme
Wärterin
Drei junge polnische Frauen
Briefstimme Professor Stieve
Kind Nora, ca. zehn Jahre alt
Vater

Das Fallbeil im Hinrichtungsschuppen Plötzensee war hinter einem schwarzen Vorhang verborgen. Dieser war mit Metallringen an einer eisernen Stange befestigt. Um das Entsetzen der Verurteilten zu erhöhen, wurde der Vorhang mit einem Ruck aufgerissen und der Blick auf das von einer nackten Glühlampe grell beleuchtete Mordinstrument schlagartig freigegeben. Das Rasseln der Ringe erfolgte bei Hochbetrieb alle drei Minuten.

Stimme: Im Namen des Führers und des deutschen Volkes! Scharfrichter, walten Sie ihres Amtes!

rasseln
Adam Kuckhoff
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Frida Wesolek
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Ursula Goetze
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Maria Terwiel
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Oda Schottmüller
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Rose Schlösinger
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Hilde Coppi
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Klara Schnabel
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Else Imme
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Eva-Maria Buch
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Annie Krauss
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Ingeborg Kummerow
rasseln
Cato Bontjes van Beek
rasseln
…Berkowitz

1.

Lehrer im Gewölbekeller der Schule mit Liane (Kind): Ja, Herr Lehrer?
Lehrer: Hier, nimm das und bring es in den Klassenraum.
Liane: Was ist das, Herr Lehrer?
Lehrer: In diesem Glaszylinder befindet sich ein in Spiritus präpariertes Seepferdchen. Paß auf, dass Du es nicht zu sehr schüttelst. Es schwimmt dort in der Stille schon seit über hundert Jahren.
Liane: Wo hat es denn gelebt?
Lehrer: In der Südsee. Von dort brachte es einst ein berühmter Forscher von einer Expedition mit.
Liane: Und warum?
Lehrer: Damit wir hier lernen, was es für fantastische Lebewesen auf der Welt gibt. Schließlich ist das Seepferdchen bis heute ein geheimnisvolles Märchentier. Vor dir haben es schon viele Kinder bewundert.
Liane: Oh, so klein und schön. Die Augen sehen noch wie lebendig aus.

2.

Kind rennt im Altberliner Mietshaus die Treppen hoch. Schließt die Wohnungstür auf. Klavierübungen sind zu hören.

Liane: Mutti! Mamotschka! Heut’ half ich dem Herrn Lehrer tragen. Ein Seepferdchen in Spiritus. Über hundert Jahre alt. Ein richtiges Märchentier.
Mutter: Liane, was soll das! Sag’ zuerst einmal Guten Tag!
Liane: Guten Tag!
Mann: Guten Tag!
Mutter: So. Das nächste mal gleich so. Platz’ hier nicht immer so wild herein, wenn ich Schüler habe. Wie oft soll ich Dir das noch sagen. Jetzt geh’ bitte noch bis Halb ’runter in den Park. Wir sind mit der Übungsstunde noch nicht fertig. Und…exercice! Un, deux, trois…

Park. Gedämpfter Straßenlärm. Aus dem Fenster im ersten Stock flottes Klavierspiel. Irgendein bekannter Titel vom Ende der zwanziger Jahre, dazwischen die Stimme der Mutter mit un, deux, trois.

Billy Wilder: Hallo! Kleine! Wie geht’s? Dufte Musik! Du bist doch bestimmt die Liane. Ich hör’ immer deine Mutter rufen.
Liane: Ja, ich bin Liane. Die Musik kommt von meiner Mutti. Sie gibt Gesangsunterricht und Klavierstunden. Und wie heißt Du?
Billy Wilder: Billy Wilder. Kannst mich Billy nennen. So alt bin ich ja nun auch noch nicht. Also da oben wohnst Du? Ja, von dort wird ja auch immer gerufen: Liane! Raufkommen! Und wenn ich dann gucke, sehe ich niemanden. Aber ich höre diese Musik und denke, wer spielt da so gut? Ich wohne dort drüben zur Untermiete (beginnt Silben zu singen und zu steppen) und … dabdadu… and… one, two, three…
Liane: Oh, Sie können aber wirklich gut tanzen. Geben Sie vielleicht Tanzstunden?
Billy Wilder: No. That’s my job. Das ist meine Arbeit. Ich bin Eintänzer. In einem Restaurant am Kudamm.
Liane: Das ist lustig. Tanzen als Arbeit.
Billy Wilder: Oho. Du bist ja schon ziemlich schlau. Aber ich habe noch eine richtige Arbeit. Ich drehe Filme. Jetzt zum Beispiel einen Film über Menschen am Sonntag. Vielleicht kannst Du mitspielen. Ich werde mal mit deiner Mutter reden.
Liane: Richtig im Kino? Ach ja, das würde mir Spaß machen. Aber meine Mutti wird dagegen sein. Ich soll was Sinnvolles lernen. Mein Vater wollte das so. Er ist aber schon gestorben.
Billy Wilder: Wie schade! Doch deine Mutter ist eine kluge Frau. Sie hat recht. Lerne gut in der Schule. Das ist wichtig. Zum Film kannst Du immer noch kommen. Aber ich laß mir vielleicht von deiner Mutter mal einige Stunden geben. Jetzt muß ich aber abtanzen. Mein Job beginnt. Good bye, kleine Liane… and one, two, three…

3.

Privatschule. Lärm im Klassenzimmer

Lehrer: Meine Damen und Herren! Ich bitte mir Ruhe aus! Mit sechzehn sind Sie keine Kinder mehr. In der kommenden Stunde hätten Sie Englische Literatur. Der Unterricht wird wegen der Hitze ins Freie verlegt. Sie werden, bitte gesittet, wie es sich gehört, mit Frau Harnack in den Tiergarten gehen. (Freudiger Lärm) Ruhe! Ruhe, habe ich gesagt. Nehmen Sie ihre Sachen und verlassen Sie geordnet den Klassenraum.

Tiergarten (Park in Berlin mit Denkmälern) gedämpfter Stadtlärm

Harnack: Ich bitte Sie, etwas näher zu kommen und einen Halbkreis zu bilden. Dann muß ich nicht so schreien. Danke! Sie wissen, wie die Säule dort im Kreisverkehr genannt wird?
Durcheinander: Siegessäule! Siegessäule!
Harnack: Das ist klar. Aber woher stammt der Name? Vergangene Woche hatten wir darüber gesprochen. Also…ja, bitte, Fräulein Berkowitz.
Liane: Die Trommeln als Sockel symbolisieren Kriege. 1864 gegen Dänemark. 1866 gegen Österreich und 1870/71 gegen Frankreich. Ich weiß nicht…war es letztes Jahr? Da wurde umgebaut und die Viktoria oben nach Westen gedreht. Vielleicht greift der Führer Frankreich an. Hab’ ich jedenfalls so gehört.
Harnack: Fräulein Berkowitz, Sie erwähnen recht offen gefährliche Dinge. Vielleicht sollte mit Ihnen darüber gesprochen werden. Melden Sie sich mal nachher bei mir. Wir sehen nun die Denkmäler für mächtige Kriegsherren. Nicht auszudenken, wieviel Unglück sie über die Menschen brachten. Dort drüben Generalfeldmarschall von Moltke. Auf der Seite Kriegsminister von Roon und…kommen Sie bitte weiter, der so geliebte Kanzler von Bismarck…

Stimme entfernt sich, wird leiser, Fußgetrappel

4.

Stadtlärm

Zeitungsjunge: Berlin am Abend! Berlin am Abend! Kesselschlacht bei Charkow! Letzte und entscheidende Offensive gegen die Bolschewisten! 240 000 Gefangene!

Bei schönem Wetter voll besetzte Caféhäuser auf dem Kudamm! Neue Erfolgsmelodie von Zarah Leander!

Klingeln an der Wohnungstür, Schritte, Tür wird geöffnet

Rittmeister: Ja? Bitte?
Rehmer (genannt Remus): Entschuldigung, ich wollte zu Dr. Rittmeister. Ich heiße Fritz Rehmer.
Rittmeister: Ach ja! Kommen Sie herein, junger Mann. Oder muß ich Sie mit Dienstgrad anreden. Na, ich weiß Bescheid. Sie unterrichten mit meiner Frau zusammen am Heilschen Privatgymnasium. …beide sind inzwischen im Zimmer angekommen. Mehrere Personen sind anwesend…
Liebe Freunde! Hier bringe ich einen jungen Mann, der sicherlich genaueres über die Lage an der Front berichten kann. Er selbst ist erst kürzlich von dort als Verwundeter gekommen. Und draußen im Lazarett in Buch treffen ständig Verletzte aus den vordersten Linien ein. Also, das ist Fritz Rehmer und es trifft sich gut, daß gerade heute Libertas Schulze-Boysen gekommen ist. Sie will aber lieber unter uns Lips genannt werden. Hier am Fenster, das ist meine liebe Frau und daneben unsere Liane. Sie kennen Fräulein Berkowitz wohl aus der Schule.
Liane (schüchtern): Hallo, Remus.
Remus (räuspert sich): Guten Abend, Liane.
Rittmeister: Lips arbeitet mit Filmmaterial, das direkt aus den Kampfgebieten kommt. Ab und zu gelingt es ihr, Fotos mitzubringen, die bestimmt keine Zeitung abdrucken würde. Hier, sehen Sie sich das mal an. Das ist von einem Film abfotografiert. Also nichts Gestelltes.
Remus: Mein Gott! Wie schrecklich! Die werden gerade erschossen.
Rittmeister: Ja. Im Film sieht das so aus: Die Mutter wird mit ihrer kleinen Tochter, tja, wie alt wird sie sein…
Liane: Höchstens fünf, sechs Jahre.
Rittmeister: Das kann stimmen. Also, sie werden an die Wand gestellt. Sehen Sie. Und im Film rennt das Kind nochmals aus dem Bild und kommt mit seiner Puppe zurück. Und…hier…das kleine Mädchen stellt die Puppe neben sich an die Wand.
Remus: Das letzte Foto. Sie liegen übereinander. Die Puppe steht noch. Das tut deutschen Soldaten leid, so ein schönes Stück zu beschädigen. Ich kann ähnlich Grauenhaftes berichten. Was kann nur dagegen getan werden?
Lips: Ich habe Textmaterial von Freunden bekommen. Wir beraten gerade, ob wir das so als Flugblatt verteilen können. Fritz sollte sich das durchsehen. Liane, vielleicht liest Du mal einige Stellen vor.
Liane (mit kraftvoller Stimme): Gern. Was hier geschrieben ist, gibt doch Hoffnung. Zum Beispiel…
ein Endsieg des nationalsozialistischen Deutschland ist nicht mehr möglich.
Also dazu haben wir dann aktuelle und wahre Frontberichte gesetzt. Oder hier:
Hitler geht unter, ebenso wie Napoleon untergegangen ist. Wer die Zukunft des Volkes weiterhin mit den Geschicken Hitlers gleichsetzt, begeht ein Verbrechen!
Für mich ganz wichtig ist dieser Satz: Was kann der Einzelne tun, um seinen Willen zur Geltung zu bringen?
Rittmeister: Ich denke, das ist für alle im Augenblick das Entscheidende. Was können wir tun? Dieses Flugblatt zu lesen und sich in privatem Kreis darüber zum Gedankenaustausch zu treffen ist der erste Schritt. Jeder von uns weiß auch um die Gefahr dabei. In Deutschland herrscht Kriegsrecht. Dazu die faschistische Diktatur. Doch wir haben uns bereits entschieden. Wir handeln gegen das Regime, gegen die Schande.
Remus: Ich werde Flugblätter im Lazarett verteilen. Trotz der bitteren Zeiten ist das auch für mich heute ein besonderer Tag. Ich habe endlich die Freunde gefunden, nach denen ich lange suchte. Ich muss jetzt los. Komme ich zu spät ins Lazarett, gibt es unnötigen Ärger. Dank euch allen. Auf Wiedersehen, Liane (das Letztere in besonderem Tonfall).
Liane: Warte, Fritz. Ich komme mit zur S-Bahn. Entschuldigt, dass ich schon gehe. Aber meine Mutter ist unterwegs und ich muss um Acht den Gesangsschüler einlassen. Bis nächste Woche also. Tschüss.

5.

An einem See. Lagerfeuer prasselt. Küssen.

Remus: Lana, was ist das eigentlich für ein Muster? Hier oben, auf deinem Badeanzug?
Liane (kichernd): Lass das, Remi, das ist eine gestickte Kette von Seepferdchen. Die leben in der Südsee. Früher hatte ich sowas mal in der Schule gesehen. In Spiritus.
Remus: Ich wusste doch, meine Lana ist die Schlaueste. Was Du alles weißt. Aber hast du auch schon mal davon gehört, dass Seepferdchen als Zaubermittel gelten?
Liane: Zaubermittel? Nein. Was zaubern denn Seepferdchen?
Remus: Sie steigern die Potenz… grrr… komm, süßes Kind, geschwind. Her mit den Seepferdchen.
Liane: Remi, mein Lieber, Guter, sei mein, ich bin dein… ich liebe Dich so… (Musik)
Weißt Du, ich bin ganz sicher. Eines Tages werden wir es immer so schön haben. Was in Deutschland geschieht, kann nicht ewig dauern.
Remus: Der Krieg muß ein Ende haben. Wie können nur Menschen auf Menschen schießen. Jeder hat doch nur ein Leben.
Liane: Es ist gut, daß Du nächstes Wochenende mitmachst. Wenn wir Flugblätter gegen Krieg und Lüge kleben, ist das nicht viel. Aber einige Leute werden beginnen, nachzudenken. Und daraus wird mehr.
Remus: Ich hoffe das auch. Wir dürfen uns nicht erwischen lassen. Ich möchte nicht, dass mein liebes Mädchen aufs Polizeirevier muss. Du bist mein ganzes Glück.
Liane: Remi, wir haben doch alles genau abgesprochen. Niemand wird erwischt werden. Und unsere Liebe wird uns schützen. Wir tun doch etwas Gutes. Da kann einfach nichts geschehen. Hast Du im Kopf, was wir geschrieben haben?
Remus: Ja. Zum Schluss heißt es genau richtig:
Hitlers Sieg – Ewiger Krieg! Volkes Sieg – Beendet den Krieg!
Komm, Lana, lass uns ins Zelt kriechen. Das Feuer brennt runter. Kriegst Du nicht hier am Rücken schon eine Gänsehaut?

6.

Schläge an die Wohnungstür

Polizei: Aufmachen! Polizei!
Mutter: Ja. Ja. Moment, meine Herren. Es ist doch noch zu nachtschlafender Zeit. Guten Morgen, Sie wünschen?
Polizei: Weg da! Aus dem Weg! Ist Ihre Tochter zu Hause?
Mutter: Ja. Aber sie schläft noch. Seien Sie bitte nicht so laut. Sie braucht den Schlaf. Ein Kind ist unterwegs.
Polizei: So. Schwanger. Na, da holen Sie mal das saubere Fräulein aus der Falle. Sie soll sich anziehen und mitkommen. Aber dalli! Ah, da ist sie ja. Fräulein Liane Berkowitz?
Liane: Ja?
Polizei: Sie sind verhaftet. Sie kommen mit zum Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Machen sie sich fertig. Beeilung, wenn ich bitten darf.

Büro des Vernehmers Kommissar Strübing

Strübing: Fräulein Berkowitz, wir sind ja in letzter Zeit ganz gut vorangekommen. Ich denke, Ihre Mitarbeit wird vor Gericht entsprechend gewürdigt werden. Bisher ist also von Ihnen zugegeben, dass Sie Flugblätter gegen die Ausstellung DAS SOWJET-PARADIES auf dem Kudamm geklebt haben. Gemeinsam mit den beiden, hier bekannten Personen. Wobei dann nicht wie geplant Einhundert, sondern nur die Hälfte angebracht wurden. Den Rest haben Sie aus Angst vor Entdeckung in einen Gully gestopft. Ist das so richtig?
Liane: Ja.
Strübing: Und war der Text derselbe, den ich Ihnen jetzt vorlese –
Ständige Ausstellung Naziparadies. Krieg, Hunger, Lüge, Gestapo wie lange noch?
Liane: Ja. So stand es auf den Zetteln.
Strübing: Na, seh’n Sie. So kommen wir doch voran. Für heute soll das genügen.

Leicht veränderte Auszüge aus Originalbriefen von Liane an die Mutter

Meine liebe gute Mamotschka!
Danke für die Schlüpfer und das Frottéhandtuch. Das Püree war noch warm. Das erste, warme Essen nach langer Zeit. Grüße Remus. Er soll mit den Ärzten kämpfen und sein kaputt geschossenes Bein nicht amputieren lassen. Wenn das nicht heilen sollte, ist in einigen Jahren immer noch Zeit dafür. Liebe einzige Mamotschka, es tut mir so leid, dir diesen Kummer zu bereiten. Ich weine sehr viel. Doch wir müssen beide gesund und stark bleiben für das Kindchen. Es wird so Mitte April geboren werden. Erzähle nichts von diesem Brief. Eine Wärterin schmuggelt ihn für mich. Möge Gott mit uns sein und gnädig. Deine Lana
Ps.: Danke für das Buch von Berger ’Mit Sven Hedin durch Asien’.

Liane träumt sich in der Zelle in die Welt Asiens – passende Musik

Buchtext-Sprecher: Jetzt waren wir auf dem Höhepunkt des Sommers. Unsere Karawane erreicht das Kloster SCHANDE-MIAO. Einer der Kameltreiber hatte versucht, zwei unserer besten Kamele zu stehlen. Doch die Mongolen hatten ihn eingeholt. „Nun gut, hier sind die beiden Kamele wohlbehalten zurück. Ich darf dann wohl gehen.“ „Da irrst Du dich. Du weißt genau, dass auf diesen Diebstahl der Tod steht. Aber wir lassen das unseren Herrn Sven Hedin, entscheiden. Los! Auf!“ Der Kerl wurde gefesselt und mitgeführt.

Brief Lianes

Liebste Mamotschka!
Nachdem mir die Zehen erfroren sind, bin ich nun in eine wärmere Zelle gekommen. Ich mache mir große Sorgen, ob das Kindchen davon einen Schaden genommen hat. Aber jetzt geht es etwas besser. Ich darf mich nicht aufregen, um das Kleine heil zur Welt zu bringen. Und Du mach dir bitte auch nicht solche Sorge. Du wirst noch sehr von uns gebraucht. Meine goldige Mama, verzeih mir alle Frechheiten. Ich bete hier zu Gott und vertraue auf seine Barmherzigkeit. Versuche, mir einen Priester zu schicken. Vielleicht wird es genehmigt. Um meine Sache steht es schlimm. Der Führer hat ein neues Gesetz erlassen. Es gilt rückwirkend. Kannst Du dich noch an die Zeilen von Turgenjew erinnern: „Glückliche Jahre, fröhliche Tage. Wie Frühjahrsgewässer sind sie vorübergerauscht.“ Mamotschka, bete für mich. Ich habe solche Angst…

7.

Gerichtsverhandlung, Verlesung des Urteils

Richter: Angeklagte Liane Berkowitz, erheben Sie sich. Die Angeklagte hat sich in schwerster Weise gegen die deutsche Volksgemeinschaft vergangen. Bei der Infamie ihres Handelns ist jegliche Milde unangebracht. Das bezieht sich ebenso auf eventuelle Sentimentalitäten hinsichtlich des jugendlichen Alters. Schlimmer noch als das Alter von 18 zur Tatzeit ist, dass es sich hier um eine weibliche Jugendliche handelt. In Gemeinschaft mit einer verbrecherischen Klicke hat sie sich einer ungeheuerlichen Staatsbedrohung schuldig gemacht. Dieses Vorgehen zeigt, dass die Angeklagte abgrundtief bis ins Mark verdorben ist. Somit ist nur das Höchsturteil möglich. Im Namen des Führers des Deutschen Reiches, Adolf Hitler, wird die Angeklagte zum Tode und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt.

Brief Lianes

Meine Mamotschka!
Ich kann Dir nicht sagen, was ich bei der Verhandlung erlebt habe. Es könnte sein, daß Remus und ich uns nie wieder auf der Welt sehen werden. Ich versprach ihm, dass wir ein Kind als Zeugen unseres Lebens und unserer Liebe haben werden. Mama, ich quäle mich deinetwegen und darum müssen wir uns noch einmal sehen. Noch glaube und hoffe ich…

In der Zelle. Die Melodie der WARSZAWIANKA wird gepfiffen.

Liane: Wer pfeift da?
Mitgefangene: Das ist Erika von Brockdorff. Ihr Urteil lautete auf Zuchthaus. Ist gestern umgewandelt worden. Jetzt trägt sie wie Du die braune Armbinde mit den Buchstaben TK für Todeskandidat.
Liane: Schrecklich! Sie pfeift oft Lieder durchs Gitter. An den anderen Abenden höre ich das auch.
Mitgefangene: Ja, Sie macht allen Mut. Als ich neulich auf meine Verhandlung wartete, sprachen die anderen von ihrer Tapferkeit. Roeder, der Ankläger, brüllte: Ihnen wird das Lachen noch vergehen! Erika antwortete: Nicht, solange ich noch meinen Kopf auf den Schultern habe.
Liane: Ach, wenn ich doch auch solche Kraft hätte.
Mitgefangene: Du hast diese Kraft. Du hast sie für Zwei. Wann kommt denn dein Baby?
Liane: In zwei Monaten etwa. Und das in dieser furchtbaren Umgebung.
Mitgefangene: Komm, leg’ die Hände auf den Bauch. Atme tief und ruhig. Gib dem neuen Leben von deiner großen Kraft, deinem Mut ab. Es ist das, was von Dir und deinem Remus bleiben wird.
Liane: ich möchte leben. Mutter sein. Soll ich dieses Gefühl nie erfahren? Einem kleinen Menschen Geborgenheit geben. Es wäre so wunderbar. Ob mein Gnadengesuch Erfolg haben wird? Ich bin unendlich müde.

Brief Lianes

Liebe Mamotschka!
Meine Mitgefangenen, die das gleiche Urteil erhalten haben, kümmern sich sehr um mich. Ich verstehe nicht, weshalb sie so ruhig sind. Während der Gerichtsverhandlung hatte ich furchtbare Magenkrämpfe und Nasenbluten. Ich musste mich übergeben. Einmal wäre ich fast ohnmächtig geworden. Auf dem Gang fasste mir ein Kommissar unters Kinn. Er sagte, ich müsse stark sein und mit Remus sei nichts mehr zu machen. Das alles nennt sich hier human. Ich flehe Gott an. Ich werde auf dieser Welt noch gebraucht von Dir und meinem Kind. Deine Lana

8.

Geburtsvorgang

Hebamme: Atmen! Pressen! Atmen! Pressen! Ja, sehr schön. Gleich haben wir es. So, jetzt kannst Du zu deiner Mami. Wollen Sie ihr Kind nehmen?
Liane: Ja. Was ist es denn?
Hebamme: Ein gesundes Mädchen. Hat kleine Löckchen wie die Mama.
Liane: Meine kleine Irene, meine Irka. Wie süß die rosa Fingerchen sind. Oh, da ist ja schon ein kleines Lächeln.
Hebamme: Probieren sie mal, ob das Kleine trinkt. Das muss immer gleich geschehen. So, nehmen Sie das Kind hier in den Arm. Etwas anwinkeln. Nach oben. Na bitte, so ein Hunger.
Liane: Wie süß sie nuckelt. Trink dich ordentlich satt, meine Irka. Du sollst doch groß und stark werden. Leben sollst Du. Wenigstens Du.

Brief Lianes

Geliebte Mama!
Du musst zur Kartenstelle gehen und Dir einen Schein ausstellen lassen, um für das Kind etwas zum Anziehen zu besorgen. Du machst dann ein Paket, schreibst ’Kinderwäsche’ drauf und gibst es hier ab. Bitte mit folgendem Inhalt: Weißes Garn (falls mal was kaputt geht). Das Federbettchen. Ein Stück Seife fürs Kind. Sechs Hemdchen und Jäckchen, Größe drei. Drei Windeln und ein Wickeltuch. Und auch ein Fläschchen. Die Mütter verlieren an diesem Ort nach drei Wochen die Milch. Viele Küsse von deiner Lana

Die Zellentür wird aufgeschlossen.

Wärterin: Komm Se!
Liane: Das Baby…?
Wärterin: Das schläft. Handtuch mitnehmen. Es geht zum duschen. Los!
Dusche. Lachen drei junger Polinnen. Der Text sollte mit polnischen Worten, bzw. Ausrufen durchsetzt sein.

1. Polin: Komm her. Hier ist der Strahl besonders warm. Chodź tu do nas.
2. Polin: Du hast doch vor kurzem das kleine Mädchen bekommen. Nicht wahr? Masz dzidzię, prawda?
Liane: Ja. Woher wisst ihr das?
3. Polin (lacht): Das spricht sich ‚rum. Wie heißt denn die Kleine?
Liane: Irene. Ich sag’ aber Irka. Ich glaube, sie versteht mich schon.
2. Polin: Kein Wunder bei so einer lieben Mutti. Willst Du meine Haarwäsche? Hier. Bierz, jest dobrze.
Liane: Danke. Ihr seid alle Drei aus Polen?
1. Polin: Ja. Arbeitseinsatz ohne Brot. Nun hier.
2. Polin: Was wir sagen wollen, sagen wir nicht.
1. Polin: Vielleicht überleben wir. Dann sprechen wir. Spotkamy się po wojnie, to pogadamy.
Liane: Wenn es so kommt, erzählt auch von mir und meiner Irka. Meine Mutter wohnt am Victoria-Luise-Platz.
3. Polin: Kennen wir. Wir haben einmal den Park gesäubert. Wann war das?
1. Polin: Letzten September. Ist lange her.
Liane: Eine Ewigkeit. Da wurde ich verhaftet.
Wärterin – klopft gegen die Tür: Ruhe da drin! Fertig werden!
2. Polin: Einer Kameradin ist das Kind schon geholt worden. Von ihr haben wir noch Babysachen. Söckchen, zwei Hemdchen. Willst Du sie? Dostaniesz.
Liane: Was für eine Frage? Hier habe ich doch nur, was reingelassen wird. Wenn ihr das nicht braucht – gerne. Danke! Vielleicht kann ich es irgendwie gut machen.
1. Polin: Denk an uns. Bete für uns wie wir für dich. Lebewohl! Do widzenia.
Liane: Lebt wohl. Ihr Lieben.
Wärterin: Raus! Dalli, dalli! Abmarsch!

Brief Lianes

Mamotschka!
Danke für alles, was Du für mich getan hast. Es gibt keine Hoffnung mehr. Bitte schicke kein weiteres Essen. Sie lassen es nicht mehr durch. Ich weiß, dass Du auch nichts hast. Weshalb sollen Fremde davon satt werden. Noch ist das Kind mein. Wenn ich mir vorstelle, Irka wegzugeben, zerreißt es mir das Herz. Aber sie muss leben. Hier geht das nicht. Hole Irka in den nächsten Tagen ab. Bitte nur dann, wenn die Kartenstelle geöffnet hat, da Du ja gleich Lebensmittelkarten brauchst. Kümmere dich schon vorher um einen guten Kinderarzt. Und laß Irka gleich in der Kirche am Fehrbelliner Platz taufen. Ich habe mich in Gottes Hände begeben. Man hat mir die kleine Ikone weggenommen. Ich bin furchtbar unglücklich. Deine Lana

Wärterin: Freistunde!

Zellentüren. Wachsende Schrittgeräusche. Rundgang auf dem Hof. Kies knirscht.

Wärterin: Immer im Kreis bleiben! Aufschließen dahinten!

Verschiedenes Flüstern: Tak tak… Wie lange noch… ist schon weg… guck, mein Spatz… gestern Besuch gehabt… so ein schöner Sommertag… durchhalten… hier, ein Stück Bleistift… richtiges Badewetter… Dobrze… Urteil wurde vollstreckt…bleib stark… nicht aufgeben… ein Apfel, nimm… Bierz…

Wärterin: Liane Berkowitz!
Liane: Ja.
Wärterin: Raustreten! Fertig machen zum Transport!

9.

Amtsbrief / schneidende Stimme des Professor Stieve

Kaiser-Wilhelm-Institut, pathologische Abteilung der medizinischen Fakultät. Leiter Herr Professor Stieve an die zuständige Kammer des Reichskriegsgerichtes

Meine Herren!
Ich protestiere gegen die Verschiebung der Urteilsfällung in die Nachtstunden. Ich bitte zu bedenken, dass der Transport der ausgewählten Objekte auch einen gewissen Zeitraum in Anspruch nimmt. Wie sollen dann meine Herren Studenten, die sich bereits zu Konsultationen am späten Abend bequemt haben, noch ordnungsgemäß sezieren können? Das ist ein Affront gegen die Wissenschaft, gegen die Forschung, gegen das Studium. Der Zeitraum für die Hinrichtungen muss so verlegt werden, dass die Leichen begutachtet werden können, bevor die letzte Straßenbahn fährt. Das Institut ist soweit draußen gelegen, dass ein Heimweg zu Fuß meinen Studenten nicht zuzumuten ist. Mit deutschem Gruß Heil Hitler!

Abschiedsbrief Lianes

Teure, geliebte Mamotschka!
Es ist aus. Heute, wenn es dunkel geworden sein wird, lebt deine Lanka nicht mehr. Bleibe gesund und lebe für meine Irka. Erzieh sie zu einem klugen, tüchtigen Menschen. Hebe meine Haarlocke, Briefe und Foto von Remus und die anderen Kleinigkeiten für sie auf. Du wirst den letzten Wunsch deines sterbenden Kindes erfüllen. Ich knutsche meine Irka und ihre süßen Händchen und Füßchen. Ich umarme dich zum letzten Mal. Jetzt wende ich meine Gedanken und Sinne Gott zu und bereite mich vor, zu IHM zu gehen. Ich empfange deinen Segen. Deine ruhige, unglückliche Lanka

Liane spricht das Vaterunser auf Russisch

Öffnen der Zellentüren. Kommandos „In einer Reihe antreten“, usw. Schlurfen der Holzpantinen. – Anwachsender Lärm. Flugzeuge über Berlin. Sirenen. Bomben.

rasseln
Eva-Maria Buch
rasseln
Annie Krauss
rasseln
Ingeborg Kummerow
rasseln
Cato Bontjes van Beek
rasseln
Liane Berkowitz

10.

Heutige Zeit / Radiomusik

Vater: Nora! Nora, mach doch bitte mal das Radio etwas leiser.
Nora: Papa?
Vater: Ja. Was ist denn? Ich will das hier in Ruhe zu Ende schreiben.
Nora: Papa, guck mal, was ich hier gefunden habe.
Vater: Wo hast Du denn das wieder rausgewühlt.
Nora: Das war hinten auf dem Hängeboden. In deinem alten Reisekoffer. Ich wollte eigentlich die Bastelsachen raussuchen. Ist das ein Tier?
Vater (nachdenklich, zögernd): Ja, das ist ein Seepferdchen. Über hundert Jahre alt.
Nora: Und woher hast Du das?
Vater: Tja, eine lange Geschichte. Du weißt doch, dass ich früher als Lehrer gearbeitet habe. Das war an der alten Scharmützelsee-Schule. Da wollte ich auch mal Bastelsachen aus dem Keller holen…
Nora: …und da hast Du das Seepferdchen gefunden. Was macht denn so ein kleines Tier?
Vater: Nun, es schwimmt senkrecht im blauen Wasser einer Südseelagune. Das sieht lustig aus. Leider wird es gejagt. Viele Leute denken, es hilft, wenn es zu Pulver zerrieben als Medizin geschluckt wird. So ist es schon fast ausgestorben.
Nora: Kann da nicht was gegen getan werden?
Vater: Vielleicht. Wir suchen nachher mal im Internet. Da gibt es bestimmt Hinweise. Aber dieses Seepferdchen hat eine eigene Geschichte. Es ist die Erinnerung an ein Kind wie Du. Es starb schon als ganz junge Frau.
Nora: Oh, wie traurig. Erzählst Du mir von dem Mädchen?
Vater: Also, nicht weit von dieser Schule, am Victoria-Luise-Platz, lebte dieses Kind. Die Eltern waren aus Russland vor dem Krieg geflohen. Der Vater war Dirigent und starb dann leider. Die Mutter war eine echte Dame. Sie gab Klavierunterricht. Das Mädchen ging gern zur Schule, wo es oft dem Lehrer half, Sachen aus dem Keller zu holen. Da war es glücklich. Es gab soviel Interessantes zu sehen. Ausgestopfte Tiere standen in den Regalen. Ein Fuchs, eine Eule und andere Tiere. Und eben auch das Seepferdchen. Liane hieß das Mädchen und im Nachbarhaus wohnte damals ein junger Mann, der später in Amerika ein berühmter Filmregisseur wurde. Billy Wilder brachte ihr die ersten Tanzschritte bei. Komm her… guck, so… and one, two, three… so ging ihr Tanz ins Leben…

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