…von Andrej Kurkov, Erinnerung an den zukünftigen Krieg
Monika Wrzosek-Müller
Die Handlung des Romans entwickelt sich langsam, bedächtig, um nicht zu sagen schwerfällig. Der Leser wird Schritt für Schritt in die „graue Zone“ eingeführt, in das Niemandsland an der Front zwischen ukrainischen Regierungstruppen und den Verbänden der russisch kontrollierten „Volksrepublik Donezk“ – eingeführt in den Alltag dort um 2016/2017. Es passiert wenig, nur die Natur ändert sich mit dem Licht etwas. Die Handlung setzt noch im Winter ein, der Himmel ist grau und grau ist auch das Leben rundherum. Beschrieben wird die laute Stille, die herausfordernde Stille: ihre Arten und Abarten; ohne Strom, ohne jegliche Infrastruktur, ohne Nachbarn, in einem Nichts, in dem Dorf Malaja Starogradowka, das zum Untergang verurteilt ist, auf ein Minimum reduziert. Die Bewohner sind geflüchtet, haben ihre Fenster und Türen mit Brettern vernagelt, die beiden einzigen Verbliebenen, Sergej und Paschka, leben nicht weit voneinander entfernt, aber eher wie Katz und Maus, „Freundfeind“; der eine traut dem anderen nicht. Sie gehören auch zu verschiedenen Lagern; während Paschka mit den pro-russischen Separatisten kooperiert, ist Sergej Sergejiwitsch eher ein unauffälliger Ukrainer. Beide haben etwas im Leben verpasst, sind Rentner ohne Familienangehörige. Ab und zu hören sie Detonationen, es zischen Raketen über ihre Dächer, sie sehen einen Toten auf dem Feld liegen, zu dem sie nicht ohne Gefahr vordringen können. Uns, den Lesern, bleibt aber immer wieder völlig unverständlich, wie sie dort eigentlich überleben. Und wir verfallen diesen stimmungsvollen Bildern, die Kurkov für uns zeichnet.
Der Autor beobachtet seinen Helden Sergej minuziös, seine Gesten, Schritte, alle Details aus seinem Leben. Er hat viel Zeit, kann sich an seine Vergangenheit erinnern, klagt nicht: „Von allem gab es genug. Kohle und Geduld! Und Zeit erst recht! Die gehörte ihm jetzt ganz allein. Solange er am Leben war“. Langsam nimmt das Leben Fahrt auf, wird komplexer, bunter, wie das Essen des Haupthelden: erst alles getrocknet, dann zerkocht, doch bald bekommt er Eier, später auch Wurst und sogar Borschtsch. Das Wetter ändert sich auch, es kommt der Frühling, der Himmel wird auch mal heller. Es treten andere Personen auf – so als ob der Schriftsteller uns ganz langsam und behutsam in die graue Zone in der Ostukraine einführen wollte, irgendwann sind wir dann sogar auch auf der von den Russen besetzten Krim. Sergej ist Imker und so bilden die Bienen den Mittelpunkt seines Lebens, um sie kümmert er sich, um sie kreisen seine Gedanken. Er will sie im Sommer wegbringen, damit sie frei und ungestört von Kriegslärm fliegen können.
In der zweiten Hälfte entwickelt sich der Roman daher fast zu einem road movie; der Held fährt mit seinem alten grünen Schiguli und einem Anhänger mit den Bienenstöcken auf die Krim. Er muss diverse Checkpoints, die der Separatisten, ukrainische, russische, passieren; er legt einige Zwischenstopps ein, um die Bienen zu beruhigen, sie im Freien fliegen zu lassen, lernt neue Leute kennen. Doch eigentlich will Sergej seinen lang nicht gesehenen Bienenzüchter-Freund, einen Krimtataren besuchen. Um auf die Krim zu gelangen, muss er noch extra diverse Grenzkontrollstellen passieren und jedes Mal wird er anders behandelt und überprüft. Nicht, dass die Ukrainer da gnädiger wären, oft sind es eben die Russen menschlicher. Doch die systematische Drangsalierung, die Schikanen und die Verschleppung der Krimtataren ist schon im Gange; Sergej versucht der Familie seines Freundes zu helfen; sie tut ihrerseits alles für ihn und seine Bienen, führt ihn an einen für die Bienen geeigneten Ort, wo auch die Bienenstöcke seines seit gut einem Jahr verschwundenen Freundes stehen. Die permanente Anspannung und Bedrohung der Familie überträgt sich auf ihn, plötzlich fühlt er sich auch gar nicht mehr sicher in dieser an sich idyllischen südlichen Landschaft. Am Ende hilft er der Tochter seines tatarischen Freunds, über die Grenze in die Ukraine zu gelangen, wo Sergejs Ex-Frau sich des Mädchens annimmt und ihm ermöglicht, ein normales Leben zu führen.
Die Bienen, ihre Organisation, ihre Ordnung, ihre Lebendigkeit und Tüchtigkeit bilden ein Gegenentwurf zum Verhalten der Menschen, die hier meistens auf den Konflikt, sogar die gewaltsame Auseinandersetzung setzen. Die Bienen entledigen sich nur ihrer Drohnen, diese setzen sie aus, enthalten ihnen das Futter vor, untereinander verbleiben sie immer in Harmonie und verrichten fleißig ihre Aufgaben. Sie produzieren ihren Honig, auch unter den Bedingungen des Kriegs. Ihr Summen und brummen wirkt beruhigend auf alle, sie stehen in der schweren Zeit für das Prinzip Hoffnung.
Vielleicht ist das ein Roman über das Leid der Zivilbevölkerung in der Ostukraine in den Zeiten des Kriegs; alle leiden darunter – die Ukrainer, die Separatisten, die Russen, die Tataren. Die im Roman dargestellte Wirklichkeit wäre kaum zu ertragen, wäre da nicht Kurkovs besonderer Blick, seine Perspektive von unten, mit Augen eines Kindes, das staunend, naiv und meistens durchaus interessiert das ganze beobachtet. So als ob es darüber staunen würde, dass die Sonne doch immer wieder aufgeht, dass der Frühling zurückkommt: „Die Sonne ließ sich auf dem Berg nieder. Hätte die Sonne Beine, hätte sie diese Feuerbeine jetzt, da sie auf dem Gipfel des Berges saß, herabbaumeln lassen.“ Der Autor verschafft uns immer wieder Verschnaufpausen, indem er etwas winzig Kleines beobachtet, das sich den schrecklichen Zuständen widersetzt, indem er etwas Witziges, fast Absurdes in diese schreckliche Realität einbaut. So die Erzählung von den heilenden Schlafkuren auf seinen Bienenstöcken oder Sergejs Beobachtung der „grauen Bienen“, die sich durch die russische Propaganda vermeintlich verändert haben. Das ist magischer Realismus mit Elementen des Absurden, wie Kurkov ihn schon in seinen früheren Romanen noch stärker eingesetzt hat, die uns erlaubt, uns diesem Schreckgespenst anzunähern und es sogar unterhaltsam und leicht zu empfinden. Und es spricht eine tiefe Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit aus manchen Gestalten in dieser sonst verwahrlosten, kaputten Landschaft. Wir ertragen diese Hoffnungslosigkeit und Brutalität, weil Kurkov uns immer wieder verzaubert und sogar in die persönlichen Träume seines Helden einführt und somit vieles relativiert: „Da drehte sich Sergejitsch wieder auf den Rücken. Es tat ihm leid, dass die Explosionen seinen Traum vertrieben. Er versuchte, sich an ihm festzuklammern, ihn festzuhalten, aber keine Chance! Er öffnete im Traum die Augen – am Himmel über ihm war ein Funkeln wie das Polarlicht, das er noch nie gesehen hatte. Es tanzte über den Himmel und glitzerte in allen möglichen Farben außer Schwarz und Weiß.
„- Es ist ein Feuerwerk – begriff Sergejitsch verdutzt.
Er spürte, dass jemand neben ihm war. Er drehte den Kopf und entdeckte Paschka, seinen Feindfreund.
– Was ist das? – fragte er Paschka.
– Der Sieg! – antwortete der fröhlich. – Der Sieg.
– Wer hat denn gesiegt? – wollte Sergejitsch wissen und erstarrte vor Schreck, als er sah, wie die Lichter des nächsten Feuerwerkskörpers vom Himmel auf ihn herabfielen. Aus Angst presste er sich mit dem Rücken in seine Liegebank.
Aber die Lichter verloschen, ohne ihn zu erreichen.
– Ich weiß es nicht – antwortete Paschka, – und es ist auch nicht wichtig! Das Wichtigste ist der Sieg. Dass der Krieg zu Ende ist!
– Welcher Krieg? – fragte Sergejitsch, der sich an den Streit der Nachbarn über Hitler erinnerte.
– Der künftige Krieg – meinte Paschka.
– Der künftige Krieg? – wiederholte Sergejitsch betreten und begann sich aufzurichten. Er stützte sich mit den Handflächen auf die Liegebank und setzte sich langsam auf. Er sah wieder Paschka, aber der war schon nicht mehr da. Vielleicht war er auch nie da gewesen!
Um Sergejitsch herum herrschte Stille, das Feuerwerk war zu Ende. Nur die Bienen unter ihm summten leise.
Er öffnete die Augen. Der Mond war bereits auf der anderen Seite des Himmels.
Sergejitsch begriff, dass er auf dem Rücken lag. Er hatte also nur geträumt, dass er sich nach dem Gespräch mit Paschka auf seiner Liegebank aufgesetzt hatte.
Er versuchte, die linke Hand zu heben, und es gelang.
Sergejitsch seufzte erleichtert. Seine Hoffnung hatte sich bewahrheitet, seine Bienen hatten ihn geheilt. Er konnte wieder beide Hände benutzen und war kein Invalide mehr! Das Leben ging also weiter, und vom Sieg hatte er nur geträumt. Es gab keinen Sieg.“
Kurkov hat in einem Interview nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022, nachdem der Krieg schon wirklich im Gange war, gesagt, dass er jetzt erst einmal keine Romane mehr schreiben werde. Sein letzter, eben „Graue Bienen“, wurde wohl nicht aufmerksam genug gelesen. Als Präsident des ukrainischen PEN-Clubs widmet sich Kurkov der Hilfe für die daheimgebliebenen Schriftsteller und Verlage, die diese schreckliche Zeit überstehen müssen. Er sammelt Geld, sorgt für Evakuierung aus gefährdeten Gebieten, produziert ausführliches Informationsmaterial über den Zustand der Literatur in der Ukraine seit Februar 2022.
Wir alle hätten seinen Roman wirklich aufmerksamer lesen sollen; er ist schon 2018 erschienen.

“Bis die Ideologie,
die eine Rasse hervorhebt
und die Andere erniedrigt,
schließlich und dauerhaft verdammt
und abgeschafft ist,
wird überall Krieg sein, ich sage Krieg!
Bis es keine Bürger
erster und zweiter Klasse
in keiner Nation mehr gibt,
bis die Hautfarbe eines Menschen
nicht von größerer Bedeutung ist
als die Farbe seiner Augen,
sage ich Krieg!
Bis die grundlegenden Menschenrechte
allen gleich garantiert werden,
ohne auf die Rasse zu schauen,
gibt es Krieg.
Bis zu diesem Tag,
wird der Traum von dauerhaftem Frieden,
Weltbürgerschaft, Herrschaft des internationalen Anstands
eine vergängliche Illusion bleiben,
die verfolgt, aber nie erreicht wird.
Nun ist überall Krieg, Krieg!
Und bis die schändlichen und elenden Regime,
die unsere Brüder in Angola,
in Mosambik und Südafrika
in unmenschlicher Knechtschaft halten,
gestürzt und absolut zerstört sind,
Hey, überall ist Krieg, ich sage Krieg!
Krieg im Osten, Krieg im Westen,
Krieg oben im Norden, Krieg unten im Süden,
Krieg! Krieg! Gerüchte vom Krieg
Und bis zu dem Tag,
wird Afrika keinen Frieden kennen.
Wir Afrikaner werden kämpfen,
wir finden dies unumgänglich,
und wir wissen:
wir werden gewinnen,
Weil wir in den Sieg vertrauen,
des Guten über das Böse,
des Guten über das Böse,
des Guten über das Böse,
des Guten über das Böse,
des Guten über das Böse,
des Guten über das Böse.”
Bob Marley and The Weilers
Rastaman Vibrations (1976)
… die erste Platte von Marley ( Babylon by bus )
ergatterte ich in einem Plattenladen auf der Karl Marx Straße in Neukölln ( damals West Berlin );
es war ein Tag wo ich glücklich war und es lag nicht nur an dem joint , den ich damals mit Rastamännern rauchte…
Doch immer noch sind wir im Krieg; der Sieg ist vielleicht noch weiter entfernt…
Ich sagte schon (ende März letzten
Jahres), dass auch in diesen Krieg keine Sieger geben wird sondern nur Verlierer (siehe auch: phantastischer Roman von Franz Werfel Der Stern der Ungeborenen );
diese bittere Lektion wird auch unserer Generation nicht erspart bleiben.