Das beste Buch letzter Jahre

Ulrike Edschmid, Levys Testament, Suhrkamp 2021

Es beginnt in den 70ern in Berlin, führt über London in den 20ern letztes Jahrhunderts, ab den Nulle geht es immer wieder nach Polen, und dann noch nach Bulgarien. Es ist interessant, gut und schlicht geschrieben. Der Hauptprotagonist hat keinen Namen, er ist Engländer. Man braucht Zeit um plötzlich einzusehen, dass es ein ungewöhnliches Buch ist, dass die Geschichten erzählt, von denen wir am liebsten schweigen.

Immer wieder ist der narrative Strang mit kleinen Nebengeschichten gespickt. Ich zitiere hier einen der letzten Kapitel, der mit dem Hauptthema des Buches nicht zu tun hat, und gerade deshalb einen regelrecht umhaut.

Kapitel 47, Seiten 139-140


Auf Kyrill, den Metropoliten von Plovdiv, stösst der Engländer auf dem Berg der Erinnerung. Ein sanftes Gesicht unter einem hohen Hut. Ein Geistlicher im schwarzen Kaftan, der für die Haltung eines kleinen europäischen Landes steht, das seit 1941 zu den sogenannten Achsenmächten zählte und sich dennoch den Todeskommandos ihrer deutschen Verbündeten nicht gebeugt hat.

Es ist der 10. März 1943, Aschermittwoch im dritten Kriegsjahr. Eigentlich ein Tag der Beichte, Buße und des Aschenkreuzes. Für die Juden von Plovdiv ist es der Tag von Purim, die Erinnerung an die drohende Vernichtung von Juden im alten Persien und an ihre Rettung, niedergelegt im Buch Esther. Die Deutschen haben es an Hauswänden und Litfaßsäulen angekündigt: ein Gepäckstück, mehr nicht. Um zwei Uhr morgens schlagen sie an den Türen. Die ersten sechshundert Menschen werden abgeholt. Um fünf Uhr morgen hat man sie im Hof der jüdischen Schule zusammengetrieben. Um sieben Uhr morgens dringt die Nachricht zu Kyrill, dem Metropoliten von Plovdiv, der sie sofort per Telegramm an einflußreiche Persönlichkeiten weiterleitet, wie den bulgarischen Zar Boris III.

Aus den Klöstern ruft er dreihundert Mönche zusammen. Gemeinsam tauchen sie vor der Schule auf. Die deutschen Soldaten stößt er beiseite und klettert in den geistlichen Gewand über den Zaun in den Schulhof. Für die eingesperten Menschen findet er Worte aus dem Buch Ruth: “Wo immer Ihr hingeht, ich gehe mit Euch!”

Dann hastet er zum Bahnhof. Er werde sich auf die Gleise legen, sagt er, wenn der Zug, der für Deportation bereitsteht, sich in Bewegung setzen sollte. Was er sagt, ist keine Drohung. Es ist eine Entscheidung. Unverrückbar wie eine Tat, die zum Vermächtnis wird.

Der Zug wird den Bahnhof nicht verlassen. Sechshundert Menschen werden gegen Mittag in ihre Häuser zurückkehren. Sie werden den Holocaust überleben, wie über vierzigtausend anderen Juden in dem mit den Nazis verbündeten Land.

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